Kommentar: 18 Monate Corona-Pandemie und nichts gelernt?

Volle Fußballstadien, Strandpartys und die Quittung folgt auf dem Fuß – Schottland meldet 1991 Corona-Infektionen nach EM-Spielen.

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Ein Stadion (allerdings nicht voll besetzt).

(Bild: David Bayliss / Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Verdrängung ist ein faszinierender Schutzmechanismus für unsere Seele und lässt sich in der Pandemie vortrefflich studieren: Zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Beitrag entsteht, sind in Deutschland 90.945 Menschen im Zusammenhang mit einer Infektion mit einer der vielen Varianten des SARS-Cov-2 Virus gestorben. Weltweit waren es 3,95 Millionen Opfer.

Aber das gerät selbst mit einer für die menschliche Seele erstaunlichen Geschwindigkeit in Vergessenheit, wenn Politiker im Wahlkampfmodus niedrige Inzidenzen nutzen, um Impferfolge zu feiern und zur großen Freiheit zu blasen. Masken ab, Urlaub, Fußball, Festivals. War vor wenigen Wochen noch die Rede von Privilegien für vollständig Geimpfte, scheint jetzt alles egal. Die Inzidenz ist niedrig, lasst uns superspreadern.

Und das scheint auch gut zu funktionieren – also das superspreadern. Menschen, die durch die niedrigen Inzidenzen und die neue Leichtigkeit im Umgang mit dem Virus ihrer Sehnsucht nach Urlaub nachgeben, schicken die Airlines mit immer mehr und immer größeren Flugzeugen zu beliebten Touristenzielen. Offenbar ein gutes Geschäftsmodell – einfach viele Menschen an Urlaubsorte fliegen, ein wenig warten, bis die Delta-Variante sich verteilt hat – und dann, wie in Portugal, die Reisenden mit teuren Tickets schnell wieder in Sicherheit bringen.

Denn natürlich möchte jeder gerne schnell zurück, bevor das Land zum Virusvarianten-Gebiet erklärt wird und Quarantäne bei der Einreise zu Hause droht. Portugal hat das Robert-Koch-Institut bereits als Virusvarianten-Gebiet eingestuft. Und bislang kaum bemerkt haben wir, dass auch Russland von der nächsten Welle überrollt wird und jetzt ebenfalls als Virusvarianten-Region gilt. Moskau ist mit seinen etwa zwölf Millionen Einwohnern besonders betroffen.

Sie erinnern sich? Geschlossene Grenzen, Quarantäne, Ausgangssperren,… Das ist gar nicht so lange her. Aber dass die Pandemie von einigen wenigen Menschen ausgehend ihren Zug um die Welt gestartet hat, verdrängen wir angesichts der niedrigen Inzidenzen und der Sehnsucht nach Freiheit und Normalität. Dabei war die erste Version des Virus noch eine ungeschickte Anfängerin im Vergleich zum hochinfektiösen Delta.

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Über die Schwere der Verläufe, die sie auslöst, gibt es keine verlässlichen Daten – zu schwierig ist die Beurteilung geworden, da die Testgruppe „Menschheit“ inzwischen an zu vielen Stellschrauben gedreht hat: vollgeschützte Alte, teilgeschützte Mittelalte, ungeschützte Junge. Und auch das Virus entwickelt sich weiter – das Symptomspektrum ändert sich. Ob das Virus damit infektiöser aber weniger gefährlich wird – so wie die saisonalen Erkältungserreger aus der großen Familie der Corona-Erreger – oder ob es einfach nur infektiöser wird und lebensbedrohlich bleibt, weiß noch niemand. Auch was das für die Kliniken bedeuten wird, kann niemand vorhersagen. Das müssen wir erst testen.

Am besten gelingt das in Massenexperimenten. Hängen eigentlich an den Eingängen zu Fußballstadien Schilder, die den Fans dafür danken, dass sie an einer medizinischen Beobachtungsstudie zum Verhalten der Delta-Variante in Menschenansammlungen teilnehmen? Eine andere Erklärung, als ein ausgeklügeltes Studiendesign zur Pandemieforschung an männlichen, mittelalten Probanden kann es für das Verhalten der UEFA eigentlich gar nicht geben. Soviel Geld können die Fans gar nicht an den Kassen lassen, dass es sich lohnt, tausende Infizierte und unkalkulierbar viele Tote dafür zu riskieren.

Und das ist nicht übertrieben, wie sich gerade in Schottland zeigt. 1991 Schotten haben sich nach Aussage der Gesundheitsbehörde Public Health Scotland beim Spiel Schottland gegen England am 18. Juni in London infiziert: Großteils männliche Fußballfans zwischen 20 und 39 Jahren. England zählt offenbar lieber nicht – zumindest sind keine offiziellen Zahlen bekannt. Bei dem Schottland-England-Corona-Event waren etwas mehr als 20.000 Menschen im Stadion. Mit 45.000 Zuschauern ist Deutschland aus der EM ausgeschieden und für die Halbfinale und das Finale will die UEFA 60.000 jubeln sehen. Ohne Masken, ohne Abstände und fleißig Körperflüssigkeiten austauschend.

Dafür gibt es keine Worte, die druck- oder onlinefähig werden. Ganze Länder haben sich über Monate verkapselt, Ärzte und Pflegepersonal bis zum Zusammenbruch aufgeopfert, Menschen sich im Homeoffice isoliert, Alte und Pflegebedürftige waren von ihrer Familie abgeschnitten. Kinder und Jugendliche haben über Monate auf Schule, Freunde, Partys, Leben verzichtet. Alles um die Pandemie zurück zu drängen, eine vierte Welle zu verhindern und die Gesellschaft wieder in die Normalität zu führen. Aber volle Fußballstadien sind bestimmt wichtiger.

(jsc)