Corona aus dem Labor? Wie eine junge Postdoktorandin die Theorie am Leben hielt

Ist SARS-CoV-2 Forschern in Wuhan entfleucht? Was einst als Verschwörungstheorie galt, ist nun in den Bereich des Möglichen gerückt. Das lag auch an Alina Chan.

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(Bild: privat)

Lesezeit: 34 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Alina Chan begann im März 2020 damit, Fragen zu stellen. Sie chattete mit Freunden auf Facebook über das Virus, das sich damals von China aus verbreitete. Sie fand es irgendwie seltsam, dass die Leute sagten, es sei von einem Lebensmittelmarkt ausgegangen. Wenn das so war, warum hatte man dann bislang keine infizierten Tiere gefunden? Sie fragte sich, warum niemand eine andere Möglichkeit in Betracht zog, die ihr sehr naheliegend erschien: Der Ausbruch könnte durch einen Laborunfall verursacht worden sein.

Chan ist Postdoc in einem Gentherapielabor am Broad Institute, einer renommierten Forschungseinrichtung in Cambridge, Massachusetts, die sowohl mit Harvard als auch mit dem MIT verbunden ist. Sie hatte zuvor schon in einigen Laboren gearbeitet und wusste, dass dies keine perfekten Orte sind. In der Tat war sie oft diejenige, die den Mund aufmachte, wenn sie problematische Dinge sah. So war sie an einer Whistleblowing-Beschwerde über die Arbeitsbedingungen in einem Harvard-Labor beteiligt gewesen. (Sowohl Chan als auch die Harvard University lehnten es ab, sich zu den Details zu äußern.) Chan schien immer diejenige zu sein, die Stellung bezog, auch wenn das für ihre Karriere nichts Gutes verhieß. "Ich bin ein bisschen dumm in dieser Hinsicht", sagt sie – und nennt sich einen "geborenen Shit Stirrer", also jemanden, der, milde ausgedrückt, kein Blatt vor den Mund nimmt – im Gegenteil.

Die Diskussion auf Facebook begann, als einer ihrer Freunde einen – mittlerweile vielfach zitierten – Letter von fünf führenden Virologen in der Zeitschrift "Nature Medicine" mit dem Titel "The Proximal Origins of SARS-CoV-2" teilte, der die wahrscheinlichen Ursprünge des neuen Virus analysierte. Die Autoren des Letters hatten sich das Genom des COVID-19-Virus genau angesehen und sagten, sie könnten keine Anzeichen dafür finden, dass es absichtlich manipuliert worden sei. Ein Freund sagte Chan, das Papier werde alle Verschwörungstheorien "zu Bett bringen". Aber als sie es las, konnte sie schnell das Problem erkennen. Indem die Forscher die Möglichkeit ausschlossen, dass das Virus das Produkt manueller Gentechnik war, schlossen sie andere, einfachere Szenarien ebenfalls aus. Zum Beispiel könnte ein normales Virus, das von Fledermäusen in der Wildnis eingesammelt wurde, nach Wuhan gebracht worden und dann entfleucht sein. "Ich dachte mir: 'Die irren sich gewaltig'", sagt Chan. "Die haben nicht an all die anderen plausiblen Wege gedacht, wie ein Labor-Leck entstehen könnte."

Chans Ansicht ist inzwischen weit verbreitet. Das liegt zum Teil an ihrem Twitter-Account. Das ganze Jahr 2020 hindurch kommunizierte Chan unermüdlich wissenschaftliche Argumente und ihre Zweifel und fügte manchmal ein Einhorn-GIF hinzu, um Studien hervorzuheben, die sie für unplausibel hielt. Unterdessen glaubten erstaunlich viele Wissenschaftler im stillen Kämmerlein ebenfalls, dass ein Laborleck denkbar war - und sei es nur, weil das Weltzentrum der Forschung an Fledermausviren, die SARS-CoV-2 ähnlich sind, zufällig acht Meilen von dem Ort entfernt ist, an dem die ersten Fälle des Ausbruchs gesehen wurden: das Wuhan Institute of Virology, kurz WIV. Aber es gab eben auch keine wirklichen Beweise, und es lohnte sich nicht, "sich mit den großen Jungs anzulegen", wie ein erfahrener Virologe sagt, der anonym bleiben möchte.

Chan hatte diese Angst nicht, sich mit den besten Virologen der Welt anzulegen, und ihre Hartnäckigkeit hat dazu beigetragen, die Meinung einiger Forscher zu ändern. Der Umschwung im Denken ist mittlerweile so stark, dass Medienorganisationen alte Artikel aktualisieren, die die Idee eines Laborunfalls als "Verschwörungstheorie" gebrandmarkt hatten. Einer der Beiträge im Blog "Vox" zum Beispiel erklärt nun, dass "der wissenschaftliche Konsens sich verschoben" habe. Im Mai befahl US-Präsident Biden schließlich seinen Geheimdiensten, eine neue Untersuchung über den Ursprung des Virus durchzuführen. Sie soll noch vor Ende des Sommers vorliegen.

"Ich denke, mein Ziel wurde erreicht", sagt Chan. "Ich wollte nur, dass die Leute selbst nachforschen und die Sache ernst nehmen. Meine Arbeit ist getan und ich möchte zurück in ein normales Leben." Doch das wird wohl nicht so bald passieren. Chan ist inzwischen bei Fernseh- und Radioprogrammen gefragt und hat gerade einen Vertrag mit HarperCollins unterschrieben, um einen Wissenschaftskrimi in Form eines Sachbuchs über die Suche nach dem Ursprung von COVID-19 zu schreiben – in Zusammenarbeit mit dem britischen Wissenschaftsautoren Matt Ridley. (Weder sie noch Ridley wollten verraten, welchen Vorschuss es für das Buch gab.) Chan muss auch die Konsequenzen dafür tragen, dass sie die Volksrepublik China faktisch einer der größten Menschenschlächtereien in der Geschichte bezichtigt, über 3,7 Millionen Menschen sollen im Zusammenhang mit COVID-19 verstorben sein. Sie sagte mir, dass sie nach der Veröffentlichung des Buches plant, ihren Namen zu ändern und zu versuchen, ihre wissenschaftliche Karriere im Stillen fortzusetzen.

Chan hat auch wenig willkommene und für sie beängstigende Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie Nachrichten, die sie erhält und in denen sie als "Verräterin ihrer Rasse" bezeichnet wird. Ethnisch gesehen ist Chan zum Teil Chinesin, aber sie wurde in Kanada geboren und wuchs in Singapur auf, woher ihre Familie stammt. Sie sagt, ihre Familie sei unpolitisch und ihre Eltern arbeiteten in der IT. "Mach keinen Ärger, misch dich nicht in die Politik ein" war ein Motto in ihrem Haus. Mit 16 Jahren kehrte Chan nach Kanada zurück, um an der University of British Columbia sowohl ihren Bachelor als auch ihren Doktor zu machen. Schließlich musste sie sich entscheiden, welche Nationalität sie behalten wollte und entschied sich für den kanadischen Pass.

Bevor Technology Review sie kürzlich am Broad Institute traf, wurden die Abstimmungen über die verschlüsselte App Signal durchgeführt. Chan wollte nicht sagen, auf welchem Stockwerk sie arbeitet; man traf sich außerhalb des Gebäudes. Sie hat Freunden erzählt, dass die chinesische Regierung hinter ihr her sein könnte und sagt: "Mein Ziel ist es im Moment, am Leben zu bleiben und nicht gehackt zu werden."

"Es gibt einige Sicherheitsbedenken", sagt ihr Chef am Broad, Ben Deverman. Das Broad ist das führende Institut in den USA für die Erforschung der Humangenetik, mit einem Budget von 500 Millionen US-Dollar pro Jahr. Devermans Labor erforscht, wie man Viren modifizieren kann, die in der Gentherapie eingesetzt werden könnten. "Ich denke, sie hat wahrscheinlich mehr als jeder andere dafür getan, die Öffentlichkeit einzubeziehen und die Dinge von einem wissenschaftlichen Mainstream-Standpunkt aus zu präsentieren, der zu der Zeit vielleicht nicht wie ein Mainstream-Standpunkt aussah", sagt er über ihre Arbeit an der Lab-Leak-Theorie. "Ihre Ansicht der Dinge hat sich nicht geändert, aber die der anderen Leute schon." Das schließt Personen innerhalb des Instituts ein, die ihre Redefreiheit unterstützt haben, aber darum gebeten hatten, dass sie einen gewissen Abstand zwischen ihrer Arbeit und ihren Twitter-Aktivitäten einhält. "Wir sehen es als außerhalb dessen, wofür sie bezahlt wird", sagt Deverman. "Solange sie für niemanden außer sich selbst spricht, war es ihr Recht, das Thema zu diskutieren und dranzubleiben."

"Ich habe durchaus Angst, wenn ich nur an all die Dinge denke, die diese Theorie impliziert – und was passieren wird, wenn es sich als wahr herausstellt", sagt Deverman. "Es ist schon ein bisschen beängstigend. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie die Welt mit dieser Information umgehen würde, aber gut wäre das nicht."

Wer sich für die Lab-Leak-Theorie interessierte, dürfte Chan mindestens seit Mai 2020 auf Twitter gefolgt sein. Sie stellte damals eine singuläre Person unter den Online-Detektiven dar, die dem Geheimnis auf den Grund gingen. Sie arbeitete an einer richtigen wissenschaftlichen Einrichtung, schien nicht verrückt zu sein oder ein bestimmtes Motiv zu haben. Chan ist klug und freundlich und verfügt über zahlreiche Referenzen. Sie nahm sich die Zeit, neue Informationen zu teilen und zu erklären. "Es besteht kein Zweifel, dass sie dazu beigetragen hat, die Diskussion über eine mögliche Herkunft aus dem Labor auf eine Ebene zu heben, auf der mehr Menschen bereit sind, darüber zu sprechen, nicht nur Verschwörungstheoretiker", sagt Jonathan Eisen, der an der University of California, Davis, die Evolution von Mikroorganismen studiert und ebenfalls in den sozialen Medien an Diskussionen über die Herkunft von COVID-19 beteiligt ist.

Das offensichtliche Problem mit der Labor-Leck-Theorie ist jedoch, dass es nach wie vor keine konkreten Beweise dafür gibt. Chan hat keine konkrete Vorstellung davon, wie genau ein Unfall passiert sein könnte – ob ein Student in einer Fledermaushöhle krank wurde oder ob geheime Forschungen zur Infektion von Mäusen mit einem neuartigen Virus daneben gingen. Chans Beiträge beziehen sich oft gar nicht auf direkte Beweise; häufiger drehen sie sich um deren Fehlen. Sie neigt dazu, auf Dinge hinzuweisen, die chinesische Forscher nicht getan oder gesagt haben, auf wichtige Fakten, die sie nicht so schnell wie erwartbar preisgegeben haben, auf ein infiziertes Tier vom Fischmarkt, das nie gefunden wurde – oder auf eine Virendatenbank, die im September 2019 vom WIV offline genommen wurde und immer noch offline ist. Chans Aussagen deuten stets klar darauf hin, dass es eine Vertuschung gibt – und damit ein Komplott, um die Wahrheit zu verbergen.