Kommentar: Armin Laschets gestörtes Verhältnis zur Wissenschaft ist kein Zufall

Konservative Politiker finden die Folgen des Klimawandels zwar schlimm, greifen aber zu abenteuerlichen rhetorischen Volten, um nichts dagegen tun zu müssen.

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(Bild: nicostock/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.

1958: Der US-Klimaforscher Charles David Keeling weist nach, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre ansteigt.

1979: Die erste Weltklimakonferenz findet in Genf statt.

1986: Die Deutsche Physikalische Gesellschaft warnt vor einem Anstieg des Meeresspiegels. Der Spiegel titelt: "Die Klima-Katastrophe".

1988: Gründung des Weltklimarats IPCC.

1995: Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung warnt Umweltministerin Angela Merkel: "Wenn weiterhin gleiche Mengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangten, wäre ein Gegensteuern in rund 25 Jahren nicht mehr möglich."

1997: Das Klimaprotokoll von Kyoto legt eine völkerrechtlich verbindliche Begrenzung der Treibhausgasemissionen für Industrieländer fest.

2006: Der britische Ökonom Nicholas Stern rechnet in einer Studie vor, dass die Folgen des Klimawandels teurer sind als dessen Bekämpfung. Al Gores Klima-Doku "Eine unbequeme Wahrheit" kommt ins Kino und macht das Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

2015: Die Klimakonferenz in Paris vereinbart, bis 2060 die Treibhausgas-Emissionen auf Null zu senken.

2019: Armin Laschet sagt in einer Talkshow: "Aus irgendeinem Grund ist das Klimathema plötzlich zu einem weltweiten Thema geworden."

Jetzt, im Sommer 2021, warnt der IPCC "plötzlich", die kritische 1,5°-Marke könne bereits 2030 erreicht werden. So überraschend kann die Welt sein, wenn man Wissenschaftler für Typen "mit irgendwelchen Kurven" hält. So formulierte es Armin Laschet, bezogen auf die Corona-Pandemie, am 2. Juli im nordrhein-westfälischem Landtag. Weiter sagte er: "Immer, wenn jemand ankommt und sagt ,die Wissenschaft sagt‘, ist man klug beraten zu hinterfragen, was dieser im Schilde führt, denn diese Wissenschaft hat auch Mindermeinungen, und wenn es nur ein Einzelner ist." Mit anderen Worten: Was soll ich mich um den wissenschaftlichen Konsens scheren – zur Not finde ich immer irgendeinen Professor, der genau das vertritt, was ich gerade hören möchte.

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 TR-Redakteur. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leichtverständliche, aber falsche Lösungen haben.

Natürlich gibt es innerhalb der Wissenschaft verschiedene Positionen, und natürlich hat die Mehrheit nicht automatisch recht. Aber trotzdem existiert bei vielen Dingen ein gesicherter Erkenntnisstand, den man nicht beliebig vom Tisch wischen kann. Und schon gar nicht mit dem Argument, damit führe stets jemand etwas im Schilde. Hinter allem eine finstere Absicht zu wittern, ist typisch für einen verschwörungsideologischen Denkstil – intellektuell also trübstes Wasser.

Dass Laschet so ein gestörtes Verhältnis zur Wissenschaft hat, ist kein Zufall. Denn sie macht regelmäßig darauf aufmerksam, dass bestimmte Sachverhalte nicht verhandelbar sind. Wenn die Erderwärmung bestimmte Kipppunkte erreicht, verstärkt sie sich selbst – etwa durch Methan, das auftauende Permafrostböden freisetzen. "Die Irreversibilität der Veränderung ökologischer Systeme ist noch nicht begriffen worden", warnte die Transformationsforscherin und Regierungsberaterin Maja Göpel bereits 2019.

Eine solche Dynamik verhält sich zu Laschets passiv-aggressiver Bräsigkeit wie Feuer zu Wasser. Sie lässt sich nämlich weder weg verhandeln noch aussitzen. Dieser Widerspruch nötigt Laschet zu abenteuerlichen rhetorischen Volten: Am 15. Juli 2021, einen Tag nach den verheerenden Überschwemmungen, forderte er nachmittags auf einer Presskonferenz "mehr Tempo beim Klimaschutz".

Da stellt sich die Frage: Von wem genau fordert er das? Sich selbst jedenfalls meint er offenbar nicht: Am Abend des gleichen Tages sagte er in einem WDR-Interview ziemlich unwirsch: "Weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik." Nach einem halben Tag ist er also wieder in die Werkseinstellung konservativer Klimapolitik eingerastet: Wasch' mir den Pelz, aber mach' mich nicht nass.

Auf der Pressekonferenz vom 15. Juli behauptet Laschet zudem: "Nordrhein-Westfalen ist eines der Länder, das am meisten tut gegen den Klimawandel." Das ist schlicht falsch oder zumindest deutlich geschönt. Und gerade einmal zwei Wochen vor der Pressekonferenz hatte der Landtag eine Abstandsregelung für Windräder beschlossen, die den weiteren Zubau praktisch unmöglich macht.

Mit seinen Wirklichkeitsverdrehungen ist Laschet nicht allein. Auch CSU-Chef Markus Söder forderte zwar einen "Ruck" in der Klimapolitik, unterbindet in seinem Bundesland aber weiterhin durch eine strenge Abstandsregelung jeglichen Ausbau der Windkraft und ist auch sonst nicht allzu ambitioniert, wie Michael Sterner, Professor für Energiesysteme in Regensburg, darlegt.

Und Ralph Brinkhaus, CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, sagte, "Verbote" und "moralische Zeigefinger" seien "nicht der Ansatz der Union". Ach, und was genau ist dann die Abstandsregelung für Windkraft, wenn nicht ein Verbot – nur in diesem Fall eben zu Ungunsten der Bekämpfung des Klimawandels?

Ein weiterer Virtuose darin, Offensichtliches zu ignorieren, ist Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. „Unsere neuen ambitionierten Klimaziele erfordern eine Anpassung unserer Analysen zum Stromverbrauch 2030“, teilte er Mitte Juli mit. Schon die ersten drei Worte enthalten drei Wirklichkeitsverdrehungen: Erstens sind es nicht die Ziele der Regierung oder der Union oder wen auch immer Altmaier mit "uns" gemeint haben mag – sie wurden ihm vom Bundesverfassungsgericht auferlegt. Zweitens sind die Ziele nicht "neu", sondern basieren auf dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015. Drittens sind sie nicht "ambitioniert", sondern werden die völkerrechtlichen Verpflichtungen voraussichtlich deutlich reißen. Die Folge: Deutschland wird Emissionszertifikate von anderen Ländern aufkaufen müssen. Das wird teuer. Und alle werden wieder überrascht tun. (grh)