Bundestagswahl: Wie sich die Demoskopie geschlagen hat

Wie gut Meinungsforscher im Vorfeld der Bundestagswahl gearbeitet haben, zeigt ein Blick auf Randbedingungen, Umfragedaten und das tatsächliche Wahlergebnis.

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(Bild: Shutterstock.com/Jan von nebenan)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Dorothee Wiegand
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Gewerkschaftsmitglieder wählen SPD und kirchentreue Wähler eine Partei mit C im Namen – so einfach ist es schon lange nicht mehr. Der gemeine Wähler wird unberechenbarer. Häufig fällt er seine Entscheidung sogar erst im Wahllokal.

Das klassische Instrument der Wahlforscher ist das Telefoninterview. Weil vor allem jüngere Personen heutzutage aber immer seltener einen Festnetzanschluss haben, kommt es zu systematischen Fehlern. Um diesen Effekt auszugleichen, rufen Meinungsforscher auch Mobilnummern an; das ist problematisch, weil die sich nicht einem Wahlkreis zuordnen lassen.

Ganz allgemein sind immer weniger Menschen bereit, an Wahlumfragen teilzunehmen. Laut der internationalen Studie "Election polling errors across time and space" (Fehler in Wahlumfragen über Zeit und Raum) lag die Bereitschaft dazu vor 20 Jahren noch bei 30 Prozent, mittlerweile ist sie auf unter 10 Prozent gesunken. Die Studie stammt von Will Jennings, Professor für Politikwissenschaft an der britischen Universität Southampton, und Christopher Wlezien, Professor für Meinungsforschung an der University of Texas. Die Wissenschaftler analysierten für ihre Arbeit mehr als 30.000 Umfragen seit 1942. Laut Jennings und Wlezien gefährdet die abnehmende Teilnahmebereitschaft, die sie festgestellt haben, die Repräsentativität von Umfragen.

Schließlich hat sich der schon vor Corona deutliche Trend zur Briefwahl durch die Pandemie weiter verstärkt. Das ist für die sogenannte Exit-Poll problematisch. Damit sind Befragungen am Tag der Wahl gemeint: Meinungsforscher interviewen Personen unmittelbar, nachdem diese aus dem Wahllokal kommen. Sie sollen anonym mitteilen, wie sie tatsächlich soeben gewählt haben und welcher Partei sie bei der vorigen Wahl ihre Stimme gegeben haben. Weil vor allem Wahlberechtigte am unteren und oberen Rand des Altersspektrums per Briefwahl wählen, kommt es bei der Exit-Poll zu systematischen Verzerrungen.

Umfragen im Vorfeld einer Wahl sind keine Hochrechnungen, sondern ermitteln lediglich ein Stimmungsbild zum Umfragezeitpunkt. Klassisch ist die berühmte Sonntagsfrage der Forschungsgruppe Wahlen (FGW): "Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?" Die FGW, die die Daten für das "Politbarometer" des ZDF liefert, veröffentlicht zur Sonntagsfrage sowohl Rohdaten ohne Gewichtung – die sogenannte "politische Stimmung" – als auch aufbereitete Daten unter der Bezeichnung "Projektion". Projektionen berücksichtigten "längerfristig verhaltensrelevante Faktoren" und "taktische Überlegungen der Befragten", so die Erklärung auf der Website.

Mittlerweile sind erstaunlich viele Meinungsforschungsinstitute in Deutschland tätig; einen guten Überblick liefert die Website www.bundestagswahl-2021.de. Sie alle gewichten ihre Rohdaten, legen jedoch nicht vollständig offen, wie die Gewichtung zustande kommt. Seit 2017 arbeitet ein Team von Wahlforschern der Universität Mannheim, der LMU München, der Hertie School Berlin und der HU Berlin daran, diesen Prozess transparenter zu machen. Auf ihrer Website www.zweitstimme.org klären die Wissenschaftler über die Unsicherheit von Vorhersagemodellen auf.

Eines gilt für alle Umfragen: Die ermittelten Prozentwerte sind tatsächlich nicht so eindeutig, wie sie dargestellt werden. Statistisch korrekt wäre es, ein Intervall anzugeben. Auf der Website der FGW heißt es dazu: "Unter Berücksichtigung des Stichprobendesigns und des Gewichtungsmodells ergeben sich bei einem Stichprobenumfang von n = 1.250 folgende Vertrauensbereiche: Der Fehlerbereich beträgt bei einem Anteilswert von 40 Prozent rund +/- drei Prozentpunkte und bei einem Anteilswert von 10 Prozent rund +/- zwei Prozentpunkte." Soll heißen: Wenn für eine Partei ein Umfragewert von 40 Prozent genannt wird, so liegt der tatsächliche Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen 37 und 43 Prozent.

Die Nachwahlerhebung oder Exit-Poll bezeichnet ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn als "eine der aufwendigsten Operationen, die es in der Demoskopie gibt". Infratest dimap, das Meinungsforschungsinstitut hinter dem "DeutschlandTrend" der ARD, wählte dafür zur Bundestagswahl 2021 nach statistischen Kriterien 560 Wahlbezirke aus; ein Wahlbezirk umfasst maximal 2500 Einwohner. Diese Auswahl soll die Bundesrepublik im Kleinen nachbilden. Die Mitarbeiter vor Ort melden die Exit-Poll-Daten laufend an ihr Institut. So entstehen im Laufe des Wahlsonntags die Prognosen, die unmittelbar nach Schließung der Wahllokale veröffentlicht werden. Bis 18 Uhr sind diese Daten streng geheim: Nach § 32 Absatz 2 des Bundeswahlgesetzes (BWG) sind Veröffentlichungen von Wählerbefragungen vor 18 Uhr am Wahlsonntag verboten.

Bei der jüngsten Bundestagswahl nahm es Hubert Aiwanger, der Chef der Freien Wähler, mit diesem Gesetz nicht so genau. Aiwanger twitterte am Wahlsonntag deutlich vor Schließung der Wahllokale Zahlen aus einer Nachwahlbefragung der FGW und rief in seinem Tweet dazu auf, die "letzten Stimmen" den Freien Wählern zu geben. Es ist durchaus üblich, dass Politikern die Prognosen vor 18 Uhr zugänglich gemacht werden, damit diese ihre Statements für die Medien vorbereiten können – dennoch gilt das Veröffentlichungsverbot auch für Politiker. Der Bundeswahlleiter prüft, ob ein Verstoß gegen das BWG vorliegt. In diesem Fall droht dem Politiker eine Geldbuße von bis zu 50.000 Euro.

Auf der Website des Bundeswahlleiters gibt es gut aufbereitetes statistisches Material zur Wahl.

Während die ersten Prognosen nach 18 Uhr auf den Nachwahlbefragungen beruhen, basieren die später am Wahlabend veröffentlichten Hochrechnungen bereits auf echten Stimmen. Sobald erste amtliche Auszählungen vorliegen, kommunizieren die Korrespondenten der Fernsehsender diese an die Wahlstudios. Im Laufe des Wahlabends kann das Wahlergebnis so immer exakter hochgerechnet werden.

Demoskopen treiben einen enormen Aufwand, um politische Stimmungen zu erforschen. Dennoch liegen sie immer mal wieder spektakulär falsch – das Brexit-Referendum und die Trump-Wahl sind zwei oft genannte Beispiele. Belegen die Umfragen im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 ebenfalls einen Trend zu weniger exakten oder sogar in die falsche Richtung deutenden Umfrageergebnissen?

Rückblick: Am 20. Juli veröffentlicht das Institut für Demoskopie Allensbach diese Zahlen: Union 31,5%, SPD 16,5%, Grüne 18%, FDP 12%, Linke 6,5%, AfD 9,5% und sonstige Parteien 6%. 1028 Personen befragten die Allensbacher in der Zeit vom 3.7. bis 14.7. für dieses Stimmungsbild. Werte über 30 Prozent für die Union berichten die anderen Meinungsforscher zu diesem Zeitpunkt zwar nicht, doch auch bei Forsa und Infratest dimap liegen CDU/CSU in der dritten Juliwoche sehr deutlich vor der SPD, die Grünen sehen diese beiden Institute am 21. beziehungsweise 22. Juli bei 19 Prozent.

dawum.de

Am 30. August, dem Tag des ersten Fernseh-"Triells", veröffentlicht das "Institut für neue soziale Antworten" (Insa) diese Werte: Union 20%, SPD 25%, Grüne 16,5%, FDP 13,5%, Linke 7%, AfD 11% und sonstige Parteien 7% (N = 2015, Befragungszeitraum: 27.8. bis 30.8.). Einen Tag später erscheinen ganz ähnliche Zahlen der Meinungsforscher von Forsa: Union 21%, SPD 23%, Grüne 18%, FDP 12%, Linke 6%, AfD 11% und sonstige Parteien 6%. (N = 2508, Befragungszeitraum: 24.8. bis 30.8.). Langsam zeichnet sich in den Umfragewerten ein Vorsprung für die SPD ab, während die Werte für Grüne und FDP noch deutlich über denen des späteren amtlichen Endergebnisses liegen.

Wie die Umfragewerte unmittelbar vor der Wahl vom späteren amtlichen Endergebnis abweichen, zeigt die Grafik rechts. Diese und weitere Umfragewerte findet man anschaulich aufbereitet auf www.dawum.de. Einerseits könnte man angesichts der Werte zu dem Schluss kommen, dass selbst Umfragen zwei oder drei Tage vor der Wahl keine sichere Prognose zulassen – so lag die Linke in allen Umfragen deutlich über 5 Prozent. Andererseits bewegen sich alle Abweichungen innerhalb des sogenannten Vertrauensbereichs, den Wahlforscher für ihre Umfragedaten reklamieren. Es handelt sich – statistisch gesehen – also durchaus um gute Daten.

Die Umfragewerte von Juli und August sprechen in erster Linie dafür, dass viele Wähler noch kurz vor der Wahl unentschlossen waren. Unmittelbar vor dem Wahltag zeigten die Umfragen ein Bild, das dem Wahlergebnis bemerkenswert nahe kommt. Dass der Ausgang der jüngsten Wahl bis spät in die Nacht ungewiss blieb, liegt an der politischen Situation, in der schon einzelne Prozentpunkte einen großen Unterschied machen.

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(dwi)