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Was war. Was wird. Vom fairen Wettbewerb zum fairen Lesen

Oh je, die Agilität hält Einzug in die Politik. Ein Kabinett aus Scrum Mastern und Product Owner im Parlament? Hal Faber befürchet ausufernde Zettelwirtschaft.

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Nein, Schafe sind keine Scharfmacher. Sollte die neue Bundesregierung ohne Scharfmacher auskommen, muss sie ja nicht gleich im Gegenzug einen Schafmacher zur Aufsicht bestellen.

(Bild: Laura Blu / Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Es ist nach Eigenbeschreibung Berlins aufregendstes Großraumwunder, der Hub 27, sonst als die Kaaba der Internationalen Funkausstellung bekannt. Aber die ist ja verschoben. Somit wird der Kasten gerade anderweitig benutzt, von den Sozen und den Grünen und den Freien Demokraten. Sie führten dort Sondierungsgespräche, Journalisten, Fotografen, Kameraleute und die Tonspurleute hängen herum und warten. Vor lauter Langeweile beschäftigen sie sich mit solch aufregenden Fragen wie der, ob Christian Lindner weiße Gucci-Turnschuhe getragen hat. Sowas wird gegooglet und nennt sich dann Recherche der Fakten. Doch dann lichten sich die Wolken und die Ampelanlagen-Schalttechniker:innen kamen am Friday for Future vom Berge wie Moses mit seinen Tafeln und präsentieren als "Fortschrittskoalition" das Ergebnis der Sondierungen, ein zwölf Seiten langes PDF mit der Sperrfrist 13.00. Schon im ersten Satz wird die Digitalisierung gleich nach dem Klimawandel genannt. Gleich beim ersten Einigungspunkt geht es im dritten Absatz los mit dem, was uns besonders interessiert: "Die Verwaltung soll agiler und digitaler werden. Wir werden sie konsequent von der Bürgerin und dem Bürger her denken. Digitale Anwendungen werden jeweils mitgedacht und realisiert. Dazu wollen wir Gesetze einem Digitalisierungscheck unterziehen. Die digitalpolitische Strategie der Bundesregierung wird neu aufgesetzt (u.a. KI-Strategie, Datenstrategie, Blockchain-Strategie). Kompetenzen in der Bundesregierung werden neu geordnet und gebündelt. Den Gigabit-Ausbau treiben wir engagiert voran."

Agildigital geht es los in die Gigabit-Gesellschaft. Alle Gesetze auf den Digitalisierungscheck-Prüfstand, huschhusch! Was soll das mit der Vorratsdatenspeicherung, dem Hackerparagraphen, der Videoüberwachung mit Gesichtskontrollen, der Speicherung von Fluggastdaten? Sind diese Gesetze vielleicht gar nicht gemeint? Ist es schon positiv genug, wenn erstmals seit 1986 (!) kein neues Überwachungsgesetz von der künftigen Regierung geplant wird? Besteht die Hoffnung, dass erstmals seit 1982 (mit Gerhart Baum) ein liberaler oder grüner Innenminister installiert wird und die unsägliche Liste der Scharfmacher von Zimmermann über Kanther, Schily, Schäuble, Friedrich und Seehofer ein Ende hat?

*** Auf der positiven Seite muss man anmerken, dass es nur wenige Buzzwords in die ganzen Aussagen zur künftigen Digitalisierung geschafft haben. Ja, die Blockchain ist dabei mit dieser "Blockchain-Strategie" für komische Projekte wie der "ID Wallet"-App und dem digitalen Schulzeugnis. Die Blockchain ist offenbar unvermeidlich wie der Tritt in Hundescheiße, wie auch die Nennung von Künstlicher Intelligenz als großer Zaubertrankkessel für alle möglichen Projekte, gleich einmal KI-Strategie genannt. Möge sie besser sein als die KI-Strategie der alten schwarzroten Regierung, die einfach ein paar Dutzend KI-Professuren finanziert hat. Gespannt darf man sein, was sich hinter der "Datenstrategie" verbirgt? Den Traum von der transparenten Regierung, der maschinenlesbaren Regierung, der Einführung eines umfassenden Lobbyregisters, den wird man ja noch träumen dürfen. Umfassende Informationsfreiheiten für die Bürger gehören auch zu einer neuen Datenstrategie. Dafür fehlt der Datenschutz in der Zusammenfassung der Gespräche. Ist es konsequent von der Bürgerin und dem Bürger her gedacht, wenn die Datenstrategie weiter hinten im Positionspapier so formuliert wird: "Wir streben einen besseren Zugang zu Daten an, insbesondere um StartUps sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen neue innovative Geschäftsmodelle in der Digitalisierung zu ermöglichen." Großes Fragezeichen auch dort, wo die Plattformökonomie die Ökonomie deformiert und die drei Parteien dagegen steuern möchten, und "weiter um fairen Wettbewerb zwischen Geschäftsmodellen digitaler Großunternehmen und dem lokal verwurzelten Unternehmen" ausgleichen.

*** Ach ja, die Ökonomie. In dieser Woche wurde bekanntlich nicht nur sondiert, sondern auch der Wirtschaftsnobelpreis 2021 an David Card, Josua Angrist und Guido Imbens vergeben (ja, ja, ich weiß, ich weiß - so als Hinweis an alle Korinthenkacker ... ). Alle drei Forscher haben etwas Ungewöhnliches getan: Sie haben sich mit der Realität und der Frage von Korrelation und Kausalität beschäftigt. Die herausragende Arbeit leistete David Card, als er sich mit den 1700 Booten und 125.000 Menschen beschäftigte, die in der Mariel Bootskrise in Miami eintrafen, nachdem Fidel Castro es seinen Bürger:innen erlaubt hatte, das Land Richtung USA zu verlassen. Die Untersuchung, die ihm den Nobelpreis einbrachte, beruht auf einer Art "natürlichem Experiment" mit einem Flüchtlingsstrom und wird zu Recht als Vorbild für heutige Analysen über den ökonomischen Einfluss von Flüchtlingswellen auf das Einkommen unterer Bevölkerungsgruppen gefeiert. Freilich um den Preis, dass bei diesem "natürlichen Experiment" ausgeblendet wurde, welche Rolle Polizei und Justiz innehatten, wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem lesenswerten Stück zum Nobelpreis schreibt. Die Folgen der Studie von Card reichen bis in die jüngste Gegenwart, als die Trump-Administration die Arbeiten der Gegner von David Card als Argumente nutzte, um den Bau der "schönen, stabilen Mauer" an der mexikanischen Grenze zu rechtfertigen.

*** Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union hat der gewesene Kanzlerkandidat Armin Laschet die Jungpolitiker aufgefordert, "klug und intelligent den Finger in die Wunde zu legen". Aus medizinischer Sicht ist das nicht der optimale Beitrag zur Wundheilung, aber Laschet ist ja auch kein Mediziner. Sein Nachfolger als Parteivorsitzender dürfte Jens Spahn werden, auch kein Mediziner, aber immerhin Gesundheitsminister. Er durfte mit Freude die Woche abschließen, dennn die von seinem Ministerium durchgesetzte "Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung" ist am Freitag in Kraft getreten. Sie besagt, dass die Projektgesellschaft Gematik nunmehr die "nationale Koordinierungsstelle für Interoperabilität" im Gesundheitswesen sein wird. Als erster Schritt in dieser Interoperabilitäts-Governance wird Vesta abgeschafft, das Verzeichnis medizinischer Standards. Doch wo Unsinn passiert, kann frei nach Goethe auch Sinn entstehen, etwa bei der neuen Offenheit der Behörde. Nach einer vorläufigen Analyse der e-Rezept-App, die bald alle haben müssen, meldeten sich die Programmierer der App zu Worte und erklärten ihr Vorgehen. Vielleicht wird es noch was mit dem TI-Kuddelmuddel, ehe die große Rundum-Erneuerung namens TI 2.0 ins Rollen kommt.

Kuddelmuddel gibt es auch anderswo. In den großen deutschen Tageszeitungen – mit Ausnahme der tageszeitung – findet sich an diesem Wochenende eine seltsame Doppelseite. Links eine Wimmelbild deutscher Autorinnen und Autoren, rechts der dramatische Appell "Schreiben ist nicht umsonst!"

Angeblich geht es gegen eine Zwangslizenzierung, gegen die die Initiative fair-lesen mit Fake News zu Felde zieht. Das Problem sind die e-Books in den Bibliotheken. Denn in Deutschland weigern sich manche Verlage, den öffentlichen Bibliotheken e-Books von Büchern gleichzeitig mit dem Erscheinen dieser Bücher zur Verfügung zu stellen. Mitunter dauert es Ewigkeiten, bis die E-Books in den Bibliotheken auftauchen, wenn überhaupt. Nun hat ausgerechnet der Bundesrat in seiner ganzen Föderalität vorgeschlagen, Verlage gesetzlich zu verpflichten, alle E-Books gleich bei Erscheinen den Bibliotheken für die digitale Ausleihe zur Verfügung zu stellen. Dafür sollen die Verlage ähnlich wie bei den Papierwerken eine Bibliothekstantieme erhalten, die den Verlagen jedoch zu niedrig ist. Sie sprechen in der Anzeige von einer "nahezu kostenlosen Online-Ausleihe", die den Buchmarkt gefährde und die Existenz von Autoren, Übersetzern und Buchhandlungen bedrohe. Umgekehrt wird auch ein Schuh draus, freilich ein anderer: Weil die e-Books dermaßen selten in Bibliotheken zu finden sind, fürchtet der Bibliothekenverband, dass die Bibliotheken verschwinden könnten. Die Verleger und die von ihnen eingewickelten Autoren jammern dagegen, dass die literarische Freiheit in diesem unseren Land bedroht ist, wenn die Leserinnen und Leser nicht mehr fair sind und nur noch e-Books ausleihen. Im Text steht dann die Forderung: "Lesen muss fair sein – denn Schreiben ist nicht umsonst". So geht sie, so geht die Digitalisierung in Deutschland. Wie hieß es nochmal in dem Sondierungspapier zur Digitalisierung? "Wir werden sie konsequent von der Bürgerin und dem Bürger her denken." Unter der alten Merkel-Regierung hatte der Bundestag die Forderung der Bibliotheken nach e-Books einfach auf die "lange Bank" gelegt.

(jk)