Tiktok hat Social Media längst weiter getrieben als Facebook

Dem Algorithmus von Tiktok wird nachgesagt, seine Nutzer besonders gut zu kennen und besonders interessanten Inhalt zusammenzustellen. Wie schafft die App das?

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(Bild: Proxima Studio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Enno Park
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Die chinesische App Tiktok erlebt einen enormen Aufstieg und hat mittlerweile mehr als eine Milliarde Nutzer weltweit. Damit ist die App im Club der ganz großen wie Facebook, Youtube oder Wechat angekommen. Dies schafft die App, obwohl sie einen schlechten Ruf hat, wie zum Beispiel eine Umfrage des US-Magazins "The Verge" zeigt. Tiktok löst international immer wieder Debatten um Zensur, Jugendschutz, Datenschutz und Spionage aus.

Dieses Negativ-Image steht im starken Kontrast zu den positiven Erfahrungen, die Menschen offenbar mit Tiktok machen. Fragt man sie, sagen die meisten, dass sie von der App gute Laune bekommen. Manche Menschen finden es schön und zugleich auch ein wenig erschreckend, wie gut Tiktok ihre Vorlieben zu kennen scheint und wie zuverlässig es passenden Content ausspielt. Das wird in diesem Ausmaß keiner anderen Social-Media-App nachgesagt.

Doch was ist das Geheimnis des Tiktok-Algorithmus? Eine Analyse gestaltet sich schwierig, weil ByteDance, die Firma hinter Tiktok, sich ungern in die Karten schauen lässt. Aber es gibt einigen Grund anzunehmen, dass es nicht einfach ein besonders guter Algorithmus ist, sondern ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die Tiktok so gut funktionieren lassen.

Um das besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte. Seinen Durchbruch hatte ByteDance mit einer News-App namens "Toutiao", die vielleicht am ehesten mit Google News vergleichbar ist. Wer diese App nutzt, bekommt zunächst eine am Durchschnitt orientierte Auswahl von Nachrichten angezeigt, doch die App lernt mit dem Benutzerverhalten dazu und richtet seinen News-Feed immer genauer an dessen Vorlieben aus.

Ein solcher Algorithmus bildet auch den Kern von Tiktok, das sich dadurch grundlegend von sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter unterscheidet. Die setzen auch Algorithmen ein, um den Feed zusammenzustellen, die aber darauf basieren, mit wem die Nutzer befreundet sind oder wem sie folgen. Man kann zwar auch auf Tiktok Leuten folgen, deren Content man mag, allerdings spielt dies eine untergeordnete Rolle für die Zusammensetzung der "Für dich"-Seite. Diese Seite besteht überwiegend aus einer individuell zusammengestellten Mischung erfolgreicher und unbekannter Videos, von denen Tiktop annimmt, dass sie den Nutzern gefallen könnten.

Um herauszufinden, wem was gefällt, sammelt Tiktok Daten, auf deren Basis passende Videos ausgesucht werden. Dafür sind die Videos mit zahlreichen internen Tags und Hashtags versehen, um sie vergleichbar zu machen. Tiktok wählt dann weitere Videos aus, die anderen Menschen gefallen haben, die die gleichen Videos mögen wie man selber – ganz ähnlich wie Amazons berühmte Funktion "Kunden, die diesen Artikel angesehen haben, haben auch... angesehen". Darüber hinaus scheint Tiktok die Nutzer in Gruppen zu unterteilen und immer wieder Inhalte vorzuschlagen, die zwar nicht der eigenen Gruppe entsprechen, aber einer anderen Gruppe, mit der man Schnittmengen hat. So wird der Content, den Tiktok individuell anzeigt, immer nischiger.

Doch in alledem unterscheidet sich der Algorithmus prinzipiell nicht von der US-Konkurrenz. Allerdings erzeugt Tiktok durch einen Kniff sehr viel mehr Interaktionen als Facebook & Co., die sich zu Profilen zusammentragen lassen. In klassischen sozialen Medien scrollen die Nutzer durch ihren Feed. Gelegentlich liken, sharen oder kommentieren sie dort etwas, woraus dann Profile gebaut werden, aber viele Posts rauschen vorbei, ohne dass die Plattformen erfahren, was die Nutzer von ihnen halten.

Tiktok hingegen verwendet ein Benutzungsprinzip, das der Dating-App Tinder entlehnt scheint. Dort wischen die Flirtwilligen nach links oder rechts, je nachdem, ob ihnen ein Datingprofil zusagt oder nicht. Ganz ähnlich wird ein Kurzvideo auf Tiktok in einer Endlosschleife immer wieder von vorne abgespielt. Gefällt es den Nutzern, schauen sie es sich gleich mehrmals an. Gefällt es ihnen nicht, wischen sie nach oben, um das nächste Video angezeigt zu bekommen. So bekommt Tiktok für jedes einzelne Video ein messbares Feedback darüber, ob es den Nutzern gefällt, und kann viel ausführlichere Nutzungsprofile anlegen.

Zugleich ist dieses Bedienprinzip suchtfördend und erinnert an Geldspielautomaten. Dort ziehen die Spieler immer wieder am Hebel, um dem nächsten Gewinn und damit der nächsten Endorphin-Ausschüttung näher zu kommen. Tiktok funktioniert ähnlich mit dem Unterschied, dass kein Geld eingesetzt wird und "Gewinne" – in Form von passenden Videos – häufiger sind.

In diesem Mechanismus hat Bytedance noch mehrere Verstärker eingebaut: Tiktok zeigt User Generated Content und hat damit in den Augen der Nutzer ein höheres Maß an Authentizität. Im Gegensatz zu Posts bei Facebook und Twitter handelt es sich nicht um Text. Und in Abgrenzung zu Videos bei Youtube bietet Tiktok eine niederschwellige Möglichkeit, selbst kurze Videos zu produzieren – einschließlich vorgefertigter Effekte und einer großen Musikbibliothek. Das Prinzip, wie Memes sich auf Tiktok verbreiten, basiert auf Zusehen, Nachmachen und anderen beim Nachmachen zusehen und das wegen des Mediums Video auf sehr unmittelbare Weise. Damit triggert und befriedigt Tiktok einen Lern- und Spieltrieb, den alle Menschen von klein auf haben.

Wahrscheinlich hilft es auch, dass die Bedienung voll und ganz auf das Smartphone zugeschnitten ist, das gerade Jugendliche eher bei sich haben als einen PC oder ein Tablet. Die App kann so jederzeit genutzt werden. Und vielleicht trägt sogar Tiktoks schlechter Ruf ein wenig zum Erfolg bei. Schließlich halten sich Jugendliche in bestimmten Phasen der Pubertät besonders gerne dort auf, wo Eltern und Gesellschaft es nicht besonders gerne sehen. Dazu passt der immer wieder grenzwertige und grenzüberschreitende Content, der auf Jugendliche genauso anziehend wirkt wie zu früheren Zeiten die Liste indizierter Filme, um die eigenen Grenzen auszuloten.

Alle diese Aspekte treffen auf mindestens ein soziales Netzwerk, mindestens eine App, einen Streaming-Dienst oder eine Webseite zu. Deshalb ist wahrscheinlich nicht der Auswahl-Algorithmus, das Geheimnis von Tiktok, sondern die geschickte Kombination all dieser Eigenschaften. Tiktoks Erfolgsgeheimnis läge damit offen zutage.

(jle)