Omikron: Wie die Forschung Antworten auf die neue Virus-Variante sucht

Um zu beurteilen, ob die jüngst entdeckte Coronavirus-Variante schneller übertragbar ist, müssen Forscher ihre Ausbreitung einige Wochen lang beobachten.​

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(Bild: totojang1977/Shutterstock.com)

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Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Die Entdeckung der Omikron-Variante im Süden Afrikas hat erneut gezeigt, wie die Gensequenzierung früh vor potenziell gefährlichen Veränderungen warnen kann. Die neue Coronavirus-Version weist mehr als 30 Mutationen auf, von denen einige bereits bei anderen Varianten beobachtet wurden und nach Einschätzung von Experten die Übertragung des Virus beschleunigen könnten. Einige der Mutationen bereiten Forschern wiederum deshalb Sorgen, weil sie ihre Bedeutung noch nicht abschätzen können.

Die schlimmste Befürchtung ist, dass Omikron ein aus Virensicht veritables Dreamteam ungünstiger Anpassungen enthalten könnte. Deshalb haben mehrere Länder Reisesperren für Passagiere aus einigen afrikanischen Ländern verhängt, in der Hoffnung, die Ausbreitung der längst entwischten Variante zu bremsen. Wie problematisch Omikron tatsächlich ist, werden Forscher und Mediziner erst mit einigen Wochen Abstand beurteilen können.

"Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir für die meisten Fragen, die wir zu klären versuchen, noch nicht viele Daten haben", sagt Emma Hodcroft von der Universität Bern. Die Molekularepidemiologin ist Mitbetreiberin der genetischen Datenbank "Nextstrain", die anhand von Mutationen die Ausbreitung von Viren wie den COVID-19-Auslöser Sars-CoV-2 verfolgt.

MIT Technology Review hat einige der Fragen zusammengetragen, auf die Wissenschaftler jetzt Antworten suchen und wie bald sie diese haben könnten. Basierend auf den Erfahrungen mit früheren Varianten wie Alpha und Delta steht zu erwarten, dass es etwa einen Monat dauern wird, bis Omikron seine Eigenschaften offenbart.

Die Sorge: Moderna-Geschäftsführer Stéphane Bancel ließ kürzlich die Börse erzittern, als er gegenüber der Financial Times erklärte, dass er mit einem "erheblichen Rückgang" der Impfstoff-Wirksamkeit rechne. Er wisse zwar nicht genau, wie erheblich er ausfallen werde, aber mehrere Wissenschaftler hätten ihm gesagt: "Das wird nicht gut." Ein Grund für ihre Sorge sei, dass ein Großteil der Mutationen das Spike-Protein betreffen. Mit seiner Hilfe dringt das Coronavirus in Zellen ein, was einige Mutationen nun erleichtern könnten. Andere Mutationen haben zudem Bedenken geweckt, dass sie dem Virus dabei helfen könnten, dem – auf eine frühere Spike-Form trainierten – Immunsystem zu entkommen.

Das Experiment: Um herauszufinden, wie gut die derzeitigen Impfstoffe vor schweren Erkrankungen und einem tödlichen Verlauf schützen, arbeiten Forscher weltweit daran, Omikron aus den Körpern infizierter Reisender zu isolieren. Sie züchten den Keim in Zellkulturen im Labor und fügen ihn dann zu Blutplasmaproben von geimpften Personen hinzu. Dann können die Forscher messen, wie gut die Antikörper dieser Personen das Virus blockieren. Andere Labore werden für ähnliche Tests genetische Informationen von Omikron nutzen, um "Pseudoviren" zu erzeugen, die nur das Spike-Gen der neuen Variante enthalten. "Das ist wichtig, um herauszufinden: Neutralisieren die Antikörper [das Virus] noch?", sagt Volker Thiel, Virologe an der Universität Bern. "Je nach Grad der Blockierung kann man sagen, dass es immer noch funktioniert, oder eben nicht mehr so gut."

Wie lange dauert es? Die Durchführung solcher Tests dauert in der Regel ein paar Wochen. Für frühere Varianten, wie Alpha, haben Unternehmen wie Moderna und BioNTech die Ergebnisse ihrer Labortests innerhalb eines Monats veröffentlicht.

Was passiert als Nächstes? Wenn sich Omikron den Impfstoffen entzieht, müssen Coronavakzin-Produzenten wie Moderna und BioNTech ihre Boten-RNA-Produkte wahrscheinlich zum ersten Mal überarbeiten, um die veränderte genetische Zusammensetzung der neuen Variante zu berücksichtigen. Das könnte im Laufe der Jahre zu einem häufigen Ereignis werden. Es steht zu erwarten, dass wir uns in Zukunft vor dem Winter eine jährliche Auffrischungsimpfung holen – genau wie bei der Grippe.

Die Sorge: Die neue Variante hat sich in der südafrikanischen Provinz Gauteng, in der auch Johannesburg liegt, weit verbreitet und wurde inzwischen in mehr als 20 Ländern identifiziert. Wissenschaftler fragen sich, ob die neue Variante ansteckender ist oder ob sie deshalb erfolgreich ist, weil sie eine durch Krankheit oder Impfung erworbene Immunität umgeht.

Das Experiment: Es ist schwierig, die Übertragung im Labor zu testen, daher findet dieses Experiment in der realen Welt statt. Die Forscher werden mithilfe von Sequenzierungstests ermitteln, welcher Anteil der tatsächlich auftretenden COVID-19-Fälle auf Omikron zurückzuführen ist. Wenn dieser Prozentsatz zu wachsen beginnt und weltweit in verschiedenen Ländern ein ähnliches Wachstum zu beobachten ist, wäre das ein Zeichen dafür, dass Omikron schneller übertragen wird.

So war es auch bei der Alpha-Variante, die im vergangenen Dezember im Vereinigten Königreich für einen steigenden Anteil der Fälle verantwortlich war. Innerhalb weniger Monate dominierte sie auch im übrigen Europa und in den USA. Später wurde Alpha seinerseits durch Delta verdrängt. Beide Male dauerte es etwa vier Monate nach ihrem ersten Auftreten, bis die meisten Fälle auf den neuen Stamm entfielen. Folgt auch Omikron diesem Beispiel, wird es bis März oder April 2021 die vorherrschende Variante sein.

"Wenn wir eine Verdrängung sehen, deutet das stark auf einen Übertragungsvorteil hin", sagt Thiel und ergänzt: "Wenn das aber nur an einem Ort passiert, könnte es auch Zufall sein". Seiner Meinung nach beweist das gehäufte Auftreten von Omikron in Südafrika allein aber noch nicht, dass die Variante schneller übertragen wird.

Wie lange dauert es? Es könnte mindestens einen Monat dauern, bis eindeutige Beweise für eine höhere Übertragbarkeit vorliegen. Das liegt daran, dass es etwa fünf bis sechs Tage dauert, bis eine neu infizierte Person genügend Viren gebildet hat, um andere anzustecken. Um also herauszufinden, ob Omikron schneller übertragen wird, müssen die Forscher mehrere Infektions- und Ausbreitungsrunden beobachten.

Das kann beschleunigt werden, wenn die Forscher die Zeitachse durch Sequenzierung alter Proben zurückverfolgen. Ärzte in Nigeria haben bereits erklärt, dass sie Omikron in einer eingelagerten COVID-19-Probe in diesem Land gefunden haben. Auch die niederländischen Behörden haben dort seit Mitte November Omikron-Fälle gefunden. Diese könnten frühere Daten liefern.

Was passiert als Nächstes? Nicht nur das SARS-CoV-2-Virus verändert sich, sondern auch die menschliche Bühne, auf der sich die Pandemie abspielt. Omikron wird mit vielfältigeren Bedingungen konfrontiert sein als jede andere Variante zuvor, darunter Länder, in denen fast alle Menschen geimpft sind, Länder, die andere Impfstoffe verwenden, Orte, an denen die meisten Menschen bereits an COVID-19 erkrankt sind, und "Null-Covid"-Nationen wie China und Neuseeland. Das bedeutet, dass sich Omikron in einigen Gebieten durchsetzen könnte, während es in anderen verpufft.

Die Sorge: Zunächst sagten einige südafrikanische Ärzte, die von der neuen Variante verursachten Symptome schienen milder zu sein. Doch es folgten Berichte über zunehmend überfüllte Krankenhausbetten. Im Moment weiß niemand, ob Omikron schlimmere Symptome verursacht oder nicht.

Das Problem ist, dass Omikron so neu ist, dass die meisten Fälle erst ein oder zwei Wochen alt sind, während es bei COVID-19 oft mehrere Wochen dauert, bis schwere Probleme oder der Tod eintritt. "Es ist noch zu früh, um etwas über die Schwere der Erkrankung zu sagen", sagt Christian Althaus, Epidemiologe in Bern.

Das Experiment: Um die Schwere der Krankheit zu messen, können die Forscher Labortiere wie Mäuse oder Affen Omikron aussetzen. Aber die endgültigen Antworten werden von realen Daten über Menschen kommen, einschließlich der Beobachtungen von Ärzten, Krankenhausaufzeichnungen und der Anzahl der Todesfälle.

Wie lange dauert es? Ob Omikron eine schlimmere Krankheit oder andere Symptome verursacht, ist wahrscheinlich die Frage, deren Beantwortung am längsten dauern wird – wahrscheinlich ein paar Monate.

Angesichts der Ungewissheit in Bezug auf Omikron und der Möglichkeit, dass Impfstoffe nicht so gut funktionieren, rufen die Forscher die Öffentlichkeit auf, sich weiterhin an Kontaktbeschränkungen, Abstände und das Tragen von Masken zu halten. "Es gibt keine Variante, gegen die diese Maßnahmen nicht wirken würden", sagt Thiel.

Er sagt auch, dass Omikron ein Ausblick in die Zukunft ist: "In den nächsten Monaten oder Jahren wird es hart werden. Es wird neue Varianten geben; damit sollten wir rechnen – und zurechtkommen müssen", sagt er.

(vsz)