Welche Folgen ein Angriff auf das ukrainische AKW Saporischschja haben könnte

Auch wenn der Beschuss der größten Atomkraftwerks Europas bislang keine Strahlung freigesetzt hat, sind Experten über die Sicherheitslage sehr besorgt.

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Vier der Reaktoren von Saporischschja.

(Bild: Руслан Селезнёв / cc-by-3.0)

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Die russische Armee hat nach Angaben der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde in der Nacht von Donnerstag auf Freitag das Gelände des Atomkomplexes Saporischschja beschossen und das Gelände besetzt. Hier befinden sich insgesamt sechs Atomkraftwerke. In einer eilends einberufenen Pressekonferenz erklärte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), Rafael Mariano Grassi, dass nach „bestätigten Informationen“, die auch die direkt aus dem Kraftwerk stammen, über Nacht ein Projektil ein Gebäude auf dem Gelände getroffen hat.

Das Gebäude, das nicht zu einem Reaktor gehört und zu Ausbildungszwecken verwendet wird, geriet in Brand. Gegen Morgen konnte der Brand gelöscht werden – bei dem Angriff wurden zwei Mitarbeiter des Sicherheitspersonals verletzt. „Keines der Sicherheitssysteme der sechs Reaktoren war betroffen. Es hat keine Freisetzung von radioaktivem Material gegeben“, betonte Grassi. „Die Überwachungssysteme für das Strahlungsniveau sind voll funktionsfähig.“

Dennoch ist auch die IAEA höchst alarmiert. Denn es gebe elementare Regeln, die niemals verletzt werden dürften, damit die Sicherheit atomarer Anlagen garantiert sei, erklärte Grassi. Dazu gehöre eine Garantie für die „die physische Integrität der Anlage“. Zudem müsse das Personal „ungehinderten Zutritt zur Anlage“ haben und dort ungestört arbeiten können. Schließlich müsse „eine ständige, externe Energieversorgung“ genauso gegeben sein wie die ungestörte Kommunikation mit der Außenwelt.

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Bei einer Sondersitzung der IAEA vor einigen Tagen habe „kein einziger Mitgliedsstaat“ diesen Regeln widersprochen. „Dennoch ist der erste Punkt jetzt verletzt worden“, sagte Grassi. „Wir haben Glück gehabt, dass die Reaktoren nicht beschädigt wurden. Aber es ist offensichtlich, dass die IAEA etwas tun muss.“

Als Reaktion auf den Zwischenfall will der IAEA-Direktor persönlich in die Ukraine reisen – und zwar nach Tschernobyl, das von den Russen ebenfalls besetzt ist. „Das bedeutet nicht, dass ich dort als Vermittler auftreten will“, sagte Grassi. Vielmehr will er als Repräsentant der IAEA von den Kriegsparteien eine Erklärung unterzeichnen lassen, in der sie die oben genannten Grundprinzipien akzeptieren. Wenn man sich auf eine gemeinsame Grundlage geeinigt habe, könne die IAEA auch Personal entsenden, das beim sicheren Betrieb der Anlagen helfe, erklärte Grassi. Was passiert, wenn die Übereinkunft nicht zustande kommt, ließ er allerdings offen.

Zwar will die IAEA Tschernobyl aus „organisatorischen Gründen“ vorgeschlagen haben. Tatsächlich könnte der symbolträchtige Ort alle Beteiligten aber auch dezent daran erinnern, was eine unkontrollierte Kernschmelze in einem Atomreaktor für Folgen haben kann. Dort hatte ein Unfall im Jahr 1986 dazu geführt, dass als Kühlmittel eingesetztes Wasser verdampfte. Weil der Graphit-Moderator jedoch weiterhin Neutronen bremste, lief die Kettenreaktion weiter, bis das nicht mehr durch Wasser gekühlte Graphit in Brand geriet – mit den bekannten Folgen.

Im Unterschied zum Tschernobyl-Reaktor handelt es sich bei den sechs Kernkraftwerken in Saporischschja allerdings um Druckwasserreaktoren vom Typ V-320 mit je 950 MW Leistung, die 1980 bis 1986 gebaut wurden und zumindest vom Hersteller als sicher und stabil gepriesen werden. Von den sechs Reaktorblöcken auf dem Gelände ist nur der vierte derzeit mit 60 Prozent Leistung in Betrieb.

Der eigentliche Reaktor eines solchen AKWs befindet sich im Gegensatz zu Tschernobyl in einem Sicherheitsbehälter aus Beton – ein Containment. Außerdem verfügen die Reaktoren über separate Wasserkreisläufe zur Kühlung des Reaktors und zur Dampferzeugung. Sorgen macht den Experten denn auch nicht so sehr, dass ein Reaktor selbst beschädigt werden könnte. „Das eigentliche Problem ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern die Beschädigung des Kühlsystems, das auch bei abgeschaltetem Reaktor erforderlich ist. Es waren diese Art von Schäden, die zum Unfall in Fukushima geführt haben“, sagt David Fletcher von der Universität Sydney, der zuvor in der britischen Atomenergie tätig war.

In Fukushima waren die Reaktoren nach einem verheerenden Erdbeben und einem Tsunami zwar wie in solchen Fällen geplant heruntergefahren worden. Da die Stromversorgung der beschädigten Blöcke jedoch nach mehr als 24 Stunden noch immer nicht wieder hergestellt war, konnte die Nachwärme der Brennelemente nicht mehr abgeführt werden. Die Hitzeentwicklung wurde schließlich so groß, dass stellenweise die Umhüllung der Brennstäbe in Brand geriet, sodass es zu einer Kernschmelze kam – begleitet von Wasserstoff-Explosionen im Reaktorgebäude. Ein ähnliches Szenario wäre zumindest theoretisch auch in der Ukraine denkbar, zumal das Stromnetz des Landes mittlerweile isoliert ist.

Umweltschützer hatten zudem bereits 2015 berichtet, dass auf dem Gelände in Saporischschja zahlreiche abgebrannte Brennelemente lagern, die nur unzureichend gesichert seien. Nach dem offiziellen Bericht zur Sicherheit ukrainischer Atomanlagen soll sich die Situation jedoch inzwischen verbessert haben. In Fukushima waren die durch Wasserstoff-Explosionen freiliegenden Brennelementebecken ein weiteres Problem gewesen – auch deren Kühlung war ausgefallen.

Ob die russische Armee den Atomkomplex Saporischschja beschossen hat, um ihn zu erobern, ist derzeit völlig unklar. Sie könnten auch versucht haben, den Betreiber zum Herunterfahren der Anlagen zu zwingen, um die Energieversorgung der Ukraine zu stören. Laut IEAE-Chef Grassi könne dies nur „ein forensisches Team“ wirklich beurteilen.

Weitgehend einig sind sich die Experten jedoch darin, dass ein militärischer Angriff auf ein AKW ein extrem riskantes Manöver darstellt. Weniger Einigkeit herrscht darüber, welche Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen sind. Während die Anti-Atom-Initiative „Ausgestrahlt“ den Angriff als weiteren Beleg für die nicht beherrschbaren Gefahren durch Atomenergie nimmt, fordert CDU-Chef Merz im Wiederholungsfall ein Eingreifen der Nato, denn „dann sind wir alle betroffen“.

(wst)