Russlands Trennung vom Internet: Warum sie irreversibel sein könnte

Die Regierung Russlands bereitet sich offenbar darauf vor, das "Runet" vom Rest der Welt abzutrennen. Experten warnen vor unabsehbaren Folgen.

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(Bild: Ms Tech)

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Von
  • James Ball
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Russlands Trennung von den wichtigen Online-Services des Westens war fast so abrupt und weitgehend wie die durch Sanktionen erfolgte Trennung von den globalen Handelswegen. Facebook wurde von den russischen Behörden vollständig inklusive Instagram blockiert, während Twitter über technische Ausbremsmaßnahmen fast komplett zum Erliegen kam. Und viele weitere Unternehmen haben sich freiwillig ganz oder teilweise vom russischen Markt zurückgezogen, darunter Apple, Microsoft, Netflix und andere. Russland ist nach dem Überfall auf die Ukraine gerade dabei, sich zu einem digitalen Pariastaat zu entwickeln, wie man es bislang nur vom Iran oder Nordkorea kannte.

Die Europäische Union versucht ihrerseits, bestimmte russische Medien aus dem Internet zu verbannen. In den Anordnungen zu neuen Maßnahmen gegen die staatlichen Sender RT (ehemals Russia Today) und Sputnik wird vorgeschlagen, nicht nur die Websites zu verbieten, sondern auch Suchmaschinen und soziale Netzwerke zu veranlassen, alle Beiträge zu löschen, die Inhalte dieser Angebote wiederholen.

Aber all das sind nur Dienste, die das Internet nutzen – und nicht die dahinterliegende Technologie und das Regelwerk, die es überhaupt ermöglicht. Wenn Facebook in einem Land blockiert wird, ist das im Grunde nichts anderes, als wenn sich Facebook aus einem Land zurückzieht oder seine Tochterfirma dort einfach pleite gehen lässt und den Betrieb einstellt. Es ist nicht das Ende des Internet.

Doch eine tiefere Spaltung ist absehbar – ausgelöst durch Maßnahmen auf beiden Seiten. Russland hat Meta (Eigentümerin von Facebook, Instagram und WhatsApp) zu einer "extremistischen Organisation" erklärt und wird aus internationalen Gremien wie dem Europarat verbannt. Es wurde sogar aus der Europäischen Rundfunkunion ausgeschlossen. Würden solche Schritte auch bei den Internet-Führungsgremien – jenen Kommissionen, die die Standards setzen – unternommen, könnten die Folgen verheerend sein.

Die Schritte haben Befürchtungen über ein "Splinternet" – eine Art Balkanisierung des Netzes – geweckt, in dem wir anstelle eines einzigen globalen Netztes, das wir heute haben, eine Reihe nationaler oder regionaler Internet-Subgruppierungen haben, die nicht mehr miteinander sprechen und vielleicht sogar mit inkompatiblen Verfahren arbeiten.

Dies würde das Ende des Internet als einheitliche globale Kommunikationstechnologie bedeuten – und vielleicht nicht nur vorübergehend. China und der Iran nutzen nach wie vor dieselbe Internettechnologie wie die USA und Europa, auch wenn sie den Zugang zu bestimmten Angeboten sperren oder von bestimmten Angeboten ausgeschlossen sind. Wenn diese Länder rivalisierende Verwaltungsorgane und ein rivalisierendes Netz einrichten, könnte das bisherige Internet nur durch die gegenseitige Zustimmung aller großen Nationen der Welt wiederhergestellt werden. Die Ära der global vernetzten Welt wäre dann vorbei.

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Es gibt bereits einige Ansätze für solche Maßnahmen. Letzten Monat forderte die ukrainische Regierung die ICANN, die das Adresssystem (DNS) des Internet steuert, auf, den Zugang Russlands zu seiner Technik zu sperren und damit potenziell sogar alle ".ru"-Seiten aus dem Internet zu entfernen.

Die ICANN, die früher ein Ableger des US-Handelsministeriums war und heute als Nichtregierungsorganisation tätig ist, wies den Vorschlag rundweg zurück. "Das Internet ist ein dezentralisiertes System. Kein einzelner Akteur hat die Möglichkeit, es zu kontrollieren oder abzuschalten", schrieb CEO Gorän Marby in seiner Antwort auf den Vorschlag. "Im Wesentlichen wurde die ICANN eingerichtet, um sicherzustellen, dass das Internet funktioniert – und nicht, um ihre Koordinierungsfunktion zu nutzen, um sein Funktionieren zu behindern."

Marbys Vorsicht ist gerechtfertigt. Die ICANN hat keine gesetzliche oder satzungsmäßige Macht über die DNS-Technik – ihre Entscheidungen werden von allen Internetbetreibern freiwillig akzeptiert. Das macht ihre Entscheidungsfindung schwerfällig (alles muss im Konsens beschlossen werden), trägt aber auch dazu bei, das Internet zusammenzuhalten.

Die anderen Leitungsgremien des Internet arbeiten ähnlich – sie sind unabhängige internationale Gremien, die auf der Grundlage von Vereinbarungen und nicht "mit Gewalt" arbeiten. Fast alle sind sich einig, dass dies eine eher schwerfällige Art ist, ein Stück lebenswichtiger globaler Infrastruktur zu verwalten – aber niemand konnte sich bislang auf eine bessere Alternative einigen.

Der Versuch, zu einer neuen Verwaltung des Netzes zu kommen, würde die Zustimmung aller Nationen der Welt erfordern – etwas, das im 21. Jahrhundert so selten ist, dass es quasi nicht existiert. Das bedeutet aber auch, dass das Internet durch wenig mehr als gegenseitige freiwillige Vereinbarungen zusammengehalten wird.

Wie würde also ein echtes Splinternet in der Praxis aussehen? Und wie weit sind wir davon entfernt? Laut Milton Mueller von der School of Public Policy am Georgia Institute of Technology könnte eine tatsächliche Spaltung des Internet – d. h. verschiedene Länder nutzen unterschiedliche Plattformen, die inkompatibel sind – eine von zwei Formen annehmen.

"Eine größere, ernsthafte Spaltung des Netzes würde ein technisch inkompatibles Protokoll beinhalten, das von einer kritischen Masse der Weltbevölkerung genutzt wird", sagt er. Diese erste Art der Zersplitterung wäre nicht katastrophal. "Experten würden wahrscheinlich in kürzester Zeit einen Weg finden, die beiden Protokolle zu überbrücken", sagt Mueller. Die zweite Form der Spaltung bestünde darin, dass zwar weiterhin technisch kompatible Protokolle verwendet werden, die Verwaltung dieser Dienste aber von unterschiedlichen Gremien übernommen wird. Dies könnte sich als schwieriger umzukehren erweisen.

Wenn Russland, China oder einige andere Länder Konkurrenten zu den Gremien bilden, die IP-Adressen und DNS verwalten – und diese etablieren –, könnte es noch schwieriger sein, die Infrastruktur wieder zusammenzubringen, als wenn Länder rivalisierende technische Protokolle entwickeln. Es würden sich Interessen herausbilden, die bei der einen oder anderen Stelle ihren Sitz haben, was die Politik einer Wiedervereinigung fast unmöglich macht.

Das Problem, diese unterschiedlichen Netze wieder zu einem globalen Internet zu verbinden, wäre also ein politisches, kein technisches – aber es sind oft die politischen Probleme, die am schwierigsten zu lösen sind. Auch ohne eine vollständige Aufspaltung des Netzes gibt es Schritte, die den globalen Informationsfluss – oder das ordnungsgemäße Funktionieren des Internet in einem Pariastaat – erheblich behindern könnten.

Da das Internet von Natur aus Monopole schafft, haben einige Dienste einen infrastrukturähnlichen Status. Amazon Web Services, zum Beispiel, treibt einen so großen Teil des Backends des Netzes an, dass ein Verbot in einem bestimmten Raum große Probleme verursacht. In ähnlicher Weise würde die Sperrung des Zugangs zu Github-Repositories viele Dienste zumindest vorübergehend lahmlegen.

Russland hat versucht, dieses Risiko für regierungsoffizielle und wichtige öffentliche Websites zu minimieren, indem es von ihnen seit längerem verlangte, ihre Daten zu repatriieren, ".ru"-Domains zu verwenden und die Nutzung ausländischer Dienstleister zu minimieren. Teilweise wurde dies zuletzt als Anweisung an alle russischen Websites aufgefasst, was zu Befürchtungen führte, Russland plane, sich vollständig vom restlichen Internet abzuschneiden. Tatsächlich gab es schon Tests des Staates, das "Runet" für sich genommen zu betreiben.

Andere Länder und Lobbygruppen haben bereits versucht, den globalen Charakter des Internets abzuschwächen – und nicht nur Autokratien. Die EU versucht, die Verarbeitung aller Daten ihrer Bürger innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu verlangen, wogegen sich die US-Tech-Giganten vehement wehren.

In der Zwischenzeit hat der Iran interne Verbindungen zwischen seinen wichtigsten Online-Institutionen aufgebaut, die es ihm ermöglichen, eine Art funktionierendes Internet nur für den Iran zu betreiben, falls sich das Land entweder vom Internet abschotten muss oder von einem Gegner aus dem globalen Netz geworfen wird.

Aber es ist China, das vielleicht die komplexeste Beziehung zum Internet hat: Während in der Volksrepublik entstandene Technologieunternehmen im Westen florieren – man denke nur an TikTok – sind fast alle Online-Dienste, die von Menschen in China genutzt werden, chinesische Unternehmen. Das Land betreibt außerdem eine umfangreiche und standardmäßig aktive Form der Online-Zensur, die üblicherweise als "Great Firewall" bezeichnet wird.

Charlie Smith* (ein Pseudonym, da er in China arbeitet und der Zensurpolitik des Landes kritisch gegenübersteht) von der Organisation GreatFire, die die Zensur im chinesischen Internet überwacht, meint, dass sich das Verhältnis des Landes zum globalen Internet im Laufe der Zeit verändert hat.

"Am Anfang wurde die Sperrung von Diensten aus reinen Zensurgründen betrieben. Das Bedürfnis war etwa, negative Informationen über Xi Jinping zu verbergen oder eine größere Katastrophe im Land zu vertuschen, die direkt der Regierung angelastet werden kann", sagt er. "Aber als die ausländischen Websites blockiert wurden, erkannten chinesische Unternehmer, dass es Lücken auf dem Markt gab, die gefüllt werden konnten." Das half dann wirtschaftlich.

Sie füllten nicht nur diese Lücken, sondern trugen auch dazu bei, dass chinesische Internetunternehmen entstanden, die genauso wertvoll sind wie ihre westlichen Gegenstücke, auch wenn diese chinesischen Unternehmen außerhalb Chinas vielleicht noch nicht so bekannt sind. "Dank dieser seit langem bestehenden separaten Institutionen könnte China es schaffen, sich vom Internet abzuschneiden – aber es liegt nicht in seinem Interesse, dies zu tun."

Er denke, China könne sich selbst vom globalen Internet abschneiden und würde dies wahrscheinlich auch tun, wenn es eine ausreichend große innenpolitische Krise gäbe "[Aber] ich glaube, dass China weiterhin auf das globale Internet angewiesen sein wird. Die chinesische Diaspora ist überall auf der Welt vertreten." Niemand könne wollen, dass die Verbindungen nach Hause unterbrochen werden. Die Unternehmen seien weiterhin darauf angewiesen sein, ihre Produkte im Ausland zu verkaufen.

Stattdessen nimmt China – wie es sich für ein Land mit mehr als einer Milliarde Internetnutzern gehört – mittlerweile führende Positionen in den verschiedenen Leitungsgremien des Internets ein. Und versucht eben, die Standards, Regeln und Protokolle langsam an seine Bedürfnisse anzupassen.

Egal wie der Krieg in der Ukraine weitergeht: Eine Spaltung des Internets ist nach wie vor sehr gut möglich – und zwar eher aus politischen als aus technischen Gründen. Im Moment scheint jeder darauf bedacht zu sein, den fragilen Status quo zu seinen Gunsten zu bewahren – nicht zuletzt deshalb, weil es sich als unmöglich erweisen könnte, das Internet zu reparieren, wenn man es einmal zerstört hat.

(bsc)