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Was war. Was wird. Von offenen Briefen und geschlossenen Grenzen.

Es werden zu viele offene Briefe geschrieben, die nicht durchdacht sind, beschwert sich Hal Faber. Wohlstandsbesserwisserei am warmen Ofen hilft halt nicht.

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Ja, das ist auch Teil der Wahrheit, die der Krieg zum Vorschein bringt: Europa kann Teil der Lösung sein, muss Teil der Lösung sein. Da ist aber noch einiges zu tun.

(Bild: spainter_vfx / shutterstock.com)

Update
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Vladimir Putin hat einen Angriff auf Kiew in dem Moment befohlen, in dem UN-Generalsekretär António Guterres eine Rede vor dem Kiewer Parlament hielt. Deutlicher kann man nicht erklären, dass man kein Interesse an Friedensverhandlungen hat und an einen Sieg mit einem großen Landgewinn glaubt. Verhandlungen werden geführt, wenn keine militärische Lösung in Sicht ist. Verhandlungen werden geführt, wenn eine Niederlage in Sicht ist oder wenn im Krieg ein Regime zusammenbricht. Dreimal hat Putin sein Nein auf den Aufruf des Papstes bekräftigt, in Mariupol einen humanitären Korridor einzurichten. Vieles deutet darauf hin, dass Putin mit einer Pufferzone plant, in der es kein Leben gibt. Gegenüber dieser Säuberung könnte sich die deutsch-deutsche Grenze in den Jahren des Kalten Krieges geradezu niedlich ausmachen, selbst wenn auch hier entsetzliche Geschichten schlummern wie dieser Tod am 30.4.1976. "Die Tragödie von Butscha hat die Welt aufgewühlt. Im Kreml aber hat man allem Anschein nach aus dieser Geschichte ganz andere Schlüsse gezogen: Um weitere Skandale dieser Art zu vermeiden, hat man beschlossen, einmal eroberte ukrainische Gebiete nie mehr zu verlassen – jedenfalls nicht freiwillig. Deshalb werden in den nunmehr besetzten Gebieten alle Maßnahmen ergriffen, um sie Russland möglichst schnell einzuverleiben. Das schreibt der russische Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow in der tageszeitung. Für ihn steht Putins Sieg fest – es sei denn, es käme in Russland zu einer tiefgreifenden demokratischen Umwandlung. Sein Fazit: "Europa muss sich auf eine lange Konfrontation mit Putin gefasst machen."

*** In dieser Situation ist in der Frauenzeitschrift Emma ein offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz erschienen, in dem 28 Kulturschaffende fordern, den Widerstand gegen den Aggressor aufzugeben und einen dritten Weltkrieg zu vermeiden. Die großartige Tradition solch offener Briefe begann mit einem offenen Brief von Emile Zola an den Präsidenten der Französischen Republik. Doch hoppla, was schreiben unsere Kulturschaffenden? "Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis." Die Kulturschaffenden wünschen sich, ganz wie Nicole in der letzten Wochenschau, "ein bisschen Frieden, ein bisschen Glück". Eine angemessene Reaktion auf die russische Aggression müsse ihre "Grenzen in anderen Gebieten der politischen Ethik" haben, heißt es in einer prächtig klingenden Worthülse. Wie die Grenzen aussehen und ob sie dann ein Streifen der Verwüstung sein werden, wie ihn Putin vielleicht plant, hätte man ja ausführen können. Wo ist eigentlich der oberste deutsche Philosoph und Eher-wenig-Hegelianer Richard David Precht, der plaudernd mit uns durch diese "Gebiete der politischen Ethik" streift und hier und da ein Metaphernpflänzchen knickt? Ach, den hatten wir ja schon mal, als er ganz im Tenor dieses offenen Briefs die Ukraine an ihre Pflicht zur Klugheit, endlich zu kapitulieren, erinnerte. Aber warum haben auffallend viele, die den offenen Brief unterzeichneten, auch offene Briefe gegen Maßnahmen in der Corona-Pandemie unterschieben? Kopfkratz. Vielleicht habe ich nur zu viele offene Briefe gelesen und sollte lieber bei den geschlossenen bleiben, die mit Zustellvermerk kommen.

*** Parallel zum "offenen Brief" hat sich in der Süddeutschen Zeitung der zweitoberste deutsche Philosoph Jürgen Habermas daran gemacht, die reservierte, abwägende Haltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz zu verteidigen. "Krieg und Empörung" steht leider hinter einer Bezahlschranke, was doppelt kurios ist, weil die Mit-Habermase aus dem Schwärmen gar nicht herauskommen, wie da einer "mit bezwingender Klarheit" schreibt: "Wenn in ferner Zukunft einmal ein Dokument gesucht wird, das der heillosen Zerrissenheit dieser Zeit exemplarisch Ausdruck verleiht: Habermas hat es geschrieben." Bleibt die Frage, welche Fassung in den kommenden Schulbüchern stehen wird, denn der Text übt sich in dem, was Zeitungsmacher Slipstreaming nennen. An einigen Stellen weichen die gedruckte und die Online-Fassung voneinander ab. Die gedruckte Fassung beginnt so: "Nach 77 Jahren ohne Krieg und 33 Jahre eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt -- vor unserer Tür und von Russland entfesselt." 77 Jahre ohne Krieg? Schön wär's gewesen. Die Online-Fassung beginnt denn auch anders mit "77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ..." Immerhin endet der Text von Habermas nicht in einem Friedensgesäusel, sondern mit der Hoffnung auf eine neue Europäische Union, die auch militärisch handlungsfähig ist: "Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Die Hoffnung spiegel sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf."

*** Gegenwärtig sind die Zeitungen voll mit rührenden Geschichten, wie den geflüchteten Menschen aus der Ukraine fast überall in Europa geholfen wird. Das ist gut und richtig, sollte aber nicht von einem strukturellen Skandal ablenken, der die europäische Grenzsicherungsbehörde Frontex erschüttert. Dort ist der Direktor Fabrica Leggeri zurückgetreten. "Ich gebe mein Amt zurück, weil es aussieht, als ob das Frontex-Mandat, für das ich gewählt wurde, leise, aber effektiv geändert wurde", heißt es zu Lügeris Abschied. Denn die Unterstellung von Leggeri, Frontex würde zu einer Art Menschenrechtsorganisation umgebaut, ist falsch. Frontex hat nachweislich Menschenrechte verletzt und das in der Frontex-Datenbank Jora kaschiert. Einsätze gegen Flüchtlingsboote wurden in türkische Gewässer verlegt, obwohl sie in griechischen Hoheitsgewässern stattfanden. Der Skandal ist, dass sich Leggeri für diese Fälschungen disziplinarrechtlich nicht verantworten muss, sondern einfach seinen Rücktritt erklären kann. Derweil wird Frontex als Polizeitruppe mit eigenen Waffen munter weiter ausgebaut, während Aija Kalnaja, die Chefin dieser Truppe, vorerst die Leitung von Frontex übernimmt. Mit dem Wechsel an der Spitzen wird sich die EU-Migrationspolitik leider nicht ändern. Vielleicht reicht es ja im nächsten Jahr für einen Big Brother Award. Bislang hat Frontex nur eine tadelnde Erwähnung kassiert, im Jahr 2013.

Heraus, heraus zum 1. Mai! Behütet und stärkt das Bündnis der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern! So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben! Und dann, wenn die Sonne scheint ohn' Unterlass, sitzen wir auf den Balkonen und Dächern und züchten lecker Tumaten – die freilich erst am 4. Mai ausgegeben werden, schließlich ist der Kampftag der Arbeiterklasse heilig. Oder das, was von ihr noch übrig ist: Roboter in die Produktion! Niemand soll mehr schwere Lasten heben. Hoch lebe die Automation!

Leider gibt es nicht überall so lustige Projekte wie die Fahrraddemo zum abgehängten Berliner Problembezirk Grunewald. Vielmehr wird befürchtet, dass Putin die große Siegesparade in Moskau am 9. Mai zu einer Erklärung nutzen wird, den Kampf gegen diese Nazis in der ganzen Welt aufzunehmen, um der drohenden Aufteilung Russlands unter Finnland, Norwegen, China und den USA zuvorzukommen. Glaubt man den Kriegsexperten, wird sich auch die Ukraine auf ihre Weise beteiligen. Aber wer glaubt den Experten, die gestern noch Top-Virologen waren und davor Bundestrainer? Was kann da mehr trösten als ein Lied, das angeblich zur Kubakrise 1962 geschrieben wurde? "After a while you become aware of nothing but a culture of feeling, of black days, of schism, evil for evil, the common destiny of the human being getting thrown off course. It’s all one long funeral song."

I saw ten thousand talkers whose tongues were all broken
I saw guns and sharp swords in the hands of young children
And it’s a hard, and it’s a hard, it’s a hard, it’s a hard
And it’s a hard rain’s a-gonna fall

[Update] Wie ein aufmerksamer "Mailer-Demon" bemerkte, handelt es sich bei der im chinesischen Fernsehen gezeigten Karte nicht um eine mögliche Aufteilung Russlands. Die Karte zeigt das jeweils nächstgelegene Land, wenn man aus Russland fliehen möchte und wurde im Original auf Reddit veröffentlicht.

(jk)