Zahlen, bitte! 2,4 Kilometer einer pulsierenden Stadt - kurz vor der Katastrophe

Zufällig wurde 1906 in San Francisco ein Film aufgenommen, der das Leben der Stadt zeigte, vier Tage vor einem verheerenden Erdbeben.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 27 Kommentare lesen

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Podcast (Podigee GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Podigee GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der Stummfilm "A Trip Down Market Street" zeigt eine alltägliche Situation in San Francisco des Jahres 1906: Die sogenannten Cable Cars (die typischen Kabelbahnen der Stadt) fahren ihre Route. Wagemutig lenken Kutscher und Automobilfahrer ihre Vehikel im Verkehr in wilden Manövern die Straße entlang. Elektrische Straßenbahnen queren die Kreuzungen. Zumeist schwarz gekleidete Passanten gehen kreuz und quer über die Straßen. Ein Schutzmann sondiert mit strengem Blick das Geschehen um sich. Wenn er nicht schaut, springen und laufen Kinder vor der Bahn herum oder bieten Zeitungen feil.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Podcast (Podigee GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Podigee GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Der über 10 Minuten lange Film dokumentiert ungefiltert das pulsierende Leben einer US-amerikanischen Großstadt, Anfang des letzten Jahrhunderts. Nur kurze Zeit später ist aber vieles nicht mehr so wie zuvor: Die Aufnahmen entstanden am 14. April 1906 - vier Tage vor dem verheerenden Erdbeben, welches große Teile San Franciscos in Schutt und Asche legte.

Die Miles-Brüder drehten diesen Film, ohne zu ahnen, welche Bedeutung er später erhalten sollte. Ihr Start in das Filmgeschäft begann drei Jahre zuvor. Die vier Brüder Joe, Earle, Harry und Herbert Miles starteten mit einer Filmverleih-Tauschbörse im Jahr 1903. Sie kauften Titel der fünf großen US-Filmproduzenten der damaligen Zeit und importierten zudem Filme aus Europa und belieferten bald als erstes Unternehmen Lichtspielhäuser von der Ost- bis zur Westküste.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Ab 1905 produzierten sie eigene Kurzfilme. Sie drehten zunächst mit einem Partner zusammen, später dann unter eigener Regie. 1906 errichteten die Miles-Brüder ein Studio in der Market Street 1139 in San Francisco. Die Adresse ist auch in etwa Startpunkt der Aufnahme. Sie montierten einfach eine 35-mm-Kamera auf eine der zahlreichen Kabelbahnen, die vorbeifuhren und nahmen eine Szene eines ganz normalen Nachmittags des Frühjahres 1906 auf.

Tollkühne Männer in ihren rollenden Kisten: Wie die Motten um das Licht kreisen in dem Film die frühen Automobile um die Kamera-Kabelbahn. Möglicherweise hat eine Annonce in der Zeitung die Autofahrer gelockt. Da kündigten die Miles-Brüder die Aufnahme an. Ansonsten wuseln Kabelbahnen, Kutschen, Radfahrer und Fußgänger die Straße entlang.

Wobei ein Detail wohl nicht ganz zufällig war: Im Film sind mehrere Automobile zu sehen, die immer wieder an der Kamera vorbeifahren, um wenig später zu wenden und dem Cable Car entgegen zu kommen, bis sie wieder von hinten erscheinen. Ein eifriger Fahrer machte dies Manöver sogar zehnmal. Es scheint, als ob sie dafür bezahlt, oder durch die Ankündigung angelockt wurden. Es gilt zu bedenken, dass damals ein Auto noch ein teures Vergnügen war. Das T-Modell von Ford und damit die ersten erschwinglichen Automobile kamen erst 1908 auf den Markt.

Dabei waren die Straßen von San Francisco im Jahr 1906 offensichtlich ein gefährliches Pflaster. Die verschiedenen Verkehrsmittel huschen in dem Film ziemlich ungeregelt aneinander vorbei. Die Kutschen und Automobile kreuzen wild umher, nach dem Motto: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst". Beeindruckend ist dabei, wie stoisch die Pferde vor den Pferdekutschen es hinnehmen, wenn eins von den Automobilen ihnen direkt vor die Kutsche fährt. Einzig die Fahrtrichtungen sind einigermaßen einheitlich, wobei selbst dabei einige noch dem Verkehr entgegenfahren.

Auf einem San Francisco Cable Car wie diesem war die Kamera montiert. Mit der Drehscheibe wurde die Fahrtrichtung der Bahnen geändert, wie am Ende des Films zu sehen. Das Bild ist aus dem August 1967.

(Bild: CC BY 3.0, EditorASC)

Das Cable Car rollt zwar mit etwa 16 km/h eher gemächlich die 2,4 Kilometer der Market Street in östlicher Richtung entlang bis zum Ferry Building, aber zwischen den Fahrzeugen wuseln zudem auch noch Fußgänger und Radfahrer umher.

Lange Zeit wurde vermutet, dass der Film im Jahr 1905 gedreht wurde. Dementsprechend sortierte die Library of Congress – die Forschungsbibliothek des US-Kongresses – den Film ein. Den Historiker David Kiehn überzeugte die Datierung nicht und er stellte umfangreiche Nachforschungen an. Anhand einer Registrierung eines Nummernschilds, Wetterdaten sowie einer Zeitungsannonce der Miles-Brüder, die Ende März 1906 die Kamerafahrt ankündigten, fand er heraus, dass die Aufnahme vom 14. April 1906 war.

Die Brände als Folge des Erdbebens ziehen über den Mission District. Die Menschen können nur machtlos zuschauen.

Das Datum war erstaunlich: Letztlich zeigten die Aufnahmen eine Stadt, die nur vier Tage später so teilweise nicht mehr existieren würde. Am 18. April 1906 um 05:12 Ortszeit erschütterte ein Erdbeben San Francisco, welches zwischen 7,8 bis 8,4 auf der Richterskala geschätzt wird. Über 3000 Menschen kamen ums Leben und über 400.000 wurden obdachlos. Schlimmer als das Beben selbst wüteten die Brände, die wie eine Feuerwalze über die Stadt zogen. Die Feuerwehr war angesichts der zusammengebrochenen Wasserversorgung weitgehend machtlos. Das Erdbeben gilt bis heute als eine der schlimmsten Naturkatastrophen der US-Geschichte.

Das Miles-Studio hatte das Erdbeben zwar überstanden, aber die Brände zerstörten das Gebäude völlig. Wieso existiert also der Film noch? Eine glückliche Fügung sorgte dafür, dass die Bilder den Flammen nicht zum Opfer fielen. Joe und Harry Miles machten sich nämlich am Vortag des Bebens mit den Aufnahmen und Teilen ihrer Ausrüstung auf den Weg nach New York.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Als sie von der Tragödie der Stadt erfuhren, kehrten sie umgehend zurück, schickten aber die Aufnahmen ins New Yorker Büro weiter, sodass sie heute noch existieren. Die Aufnahmen wurden zwischenzeitlich digitalisiert, restauriert und aufbereitet. Im Jahr 2022 erschien eine hochauflösende, nachkolorierte Version, die den ursprünglichen Stummfilm zudem mit Geräuschen unterlegte.

Die Miles-Brüder filmten zudem die Auswirkungen des Erdbebens auf die Stadt. Die Filmrollen wurden im Jahr 2018 wiederentdeckt, digitalisiert und aufgeführt. Außerdem existiert noch eine Kamerafahrt der Market Street, die nach dem Beben aufgenommen wurde. "A Trip Down Market Street" und der Film danach wurden schließlich nebeneinandergelegt und im Netz veröffentlicht. Zwei stumme Zeugen, die die enorme Zerstörungskraft dokumentierten, die die Stadt erfasste.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes Video (Kaltura Inc.) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Kaltura Inc.) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

(mawi)