Kommentar: Wir werden alle sterben – aber wahrscheinlich nicht an Affenpocken

Mit den Affenpocken erobert ein neues Schreckgespenst die Schlagzeilen. Aber Affenpocken sind kein Gespenst und erschreckend ist nur der aktuelle Tumult.

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(Bild: Wikipedia / Public Domain)

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Da ist es wieder, das Wort, das keiner mehr hören möchte: Pandemie. Corona gönnt uns gerade eine Verschnaufpause und niemand weiß, wie es mit SARS-CoV-2 weiter geht. Aber fast scheint es, als sei diese Ruhe nach über zwei Jahren Pandemie ein nur schwierig zu ertragender Zustand, denn beim ersten Zucken eines Virus mit gefährlich klingendem Namen, überschlagen sich die Meldungen und Vergleiche mit SARS-CoV-2. Aber der Vergleich hinkt in jeder Hinsicht.

Affenpocken sind für Infektiologen alte Bekannte. 1958 sind sie das erste Mal bei Laboraffen beobachtet worden – deshalb der Name Affenpocken. So wie Kuhpocken früher häufig bei Kühen auftraten. Hätte es um 1800 in Gloucestershire mehr Affen als Kühe gegeben, und hätten diese schon die Pocken gehabt, hätte Edward Jenner vielleicht den kleinen James Phipps mit dem Sekret aus der Beule eines infizierten Affenpflegers geimpft statt mit dem einer Kuhmagd. Dann würde Impfung heute vielleicht nicht Vakzinierung (von vacca, lateinisch für Kuh) sondern Simiazinierung (von simia, lateinisch für Affe) genannt.

Hätte, wäre, würde. Pocken sind seit Ewigkeiten Begleiter des Menschen. Etwa jeder dritte Infizierte starb früher an der Infektion mit Variola major, der häufigsten "Menschenvariante" der Pocken. Die Impfung wendete das Blatt. Im Jahr 1979 meldete die Weltgesundheitsorganisation weltweit, die Pocken seien ausgerottet. Ein Jahr später, auf ihrer 33. Vollversammlung, folgte die feierliche Verkündung: "Die Erde ist frei von endemischen Pocken, für eine künftige Rückkehr gibt es keinerlei Hinweise."

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Und nun das: Über 120 Fälle von Affenpocken – teilweise bestätigt, teilweise nur verdächtig – sind in den vergangenen zwei Wochen in mehr als zehn Ländern außerhalb Afrikas gemeldet worden. Vier Fälle sind in Deutschland derzeit (Stand: 23.05.2022) registriert. Das ist eine Information, die vor drei Jahren vermutlich irgendwo in den Marginalspalten aufgetaucht wäre – wenn überhaupt jemand außerhalb des medizinischen Sektors davon erfahren hätte. Aber inzwischen sind wir auf der Hut. Die steten und berechtigten Warnungen, dass wir künftig durch unsere hochgradige Vernetzung und Reiselust, den Klimawandel und den extremen Druck, den die menschliche Population auf die Natur ausübt, immer häufiger mit neuen Krankheitserregern konfrontiert werden, scheinen sich mit dieser Meldung von den Affenpocken, die nun Afrika verlassen haben, zu bestätigen.

Dazu gesellen sich Informationen wie, dass sich die Zahl der Fälle in der Demokratischen Republik Kongo zwischen 1980 und 2007 vervielfacht hat. Isoliert betrachtet: erschreckend. Im Kontext gesehen: naheliegend. Das Affenpockenvirus steht seit Jahrzehnten unter genauer Beobachtung – und ja, die Zahl der Infektionen auf dem afrikanischen Kontinent steigt an. Sogar deutlich. Aber die Gründe sind nicht ein im unbekannten Hintergrund mutierendes Virus, das mit neuen immer infektiöseren Varianten den Wirt Mensch besser erschließt. Als ein Hauptgrund haben Forschende die steigende Bevölkerungsdichte identifiziert. Menschen dringen mit ihren Siedlungen immer weiter in die Wildnis vor und treffen damit immer häufiger auf die Tiere, die das Reservoir der Pocken bilden. Welche Tiere das sind, ist bisher unbekannt.

Der Name Affenpocken ist eigentlich irreführend – in erster Linie gelten Nager als Wirte. Affen sind jedenfalls genauso Fehlwirte wie Menschen. Das Virenreservoire zu identifizieren ist schwierig, weil die Tiere, die den Viren als Reservoir dienen, sie zwar beherbergen und weitergeben, aber nicht zwangsläufig daran erkranken. Ein weiterer Umstand, der es den Affenpocken leichter macht, Menschen in Afrika zu infizieren: 1980 fing HIV an, sich massiv auf dem afrikanischen Kontinent auszubreiten und das Immunsystem vieler Menschen zu schwächen.

Und so paradox das klingt: Die Ausrottung der Menschenpocken spielt den Affenpocken in die Rezeptoren. Seit die Menschenpocken als eradiziert gelten, wird nicht mehr gegen sie geimpft. Menschen, die jünger als 50 Jahre alt sind, haben in der Regel keine Pockenimpfung mehr erhalten. Aber so wie eine Infektion mit Kuhpocken zu Jenners Zeiten die genesenen Mägde vor den Menschenpocken geschützt hat – und damit Jenner zu den ersten Impfversuchen inspiriert hat –, schützt eine Menschenpockenimpfung auch vor Affen- oder Kuhpocken. Die entscheidende Information dahinter ist: Es gibt einen Impfstoff. Und es gibt sogar ein zugelassenes Medikament.

Dass nun innerhalb weniger Wochen weltweit mehr Fälle aufgetreten sind, als seit 1970 zusammen genommen, erinnert stark an den Anfang der SARS-CoV-2-Pandemie: Aus einzelnen Personen, die überall auf der Welt aufploppten wurden innerhalb kürzester Zeit unzählige Infizierte. Der Rest ist bekannt. Aber Affenpocken sind nicht SARS-CoV-2. Affenpocken sind kein hochflexibles kleines, wendiges RNA-Virus, sondern ein großes DNA-Virus. So wie andere Pockenarten ist es mit einem stabilen Reparatur-Mechanismus ausgestattet, der Mutationen weitgehend verhindert. Das Virus, das derzeit für Furore sorgt, ist weitgehend identisch mit schon vor Jahren identifizierten Stämmen aus Westafrika. Es ist nicht ansteckender, es ist nicht gefährlicher.

Wir haben es also nicht mit einem der besorgniserregenden "emerging viruses" zu tun, wie die Fachwelt die unbekannten Erreger nennt, die aus dem Nichts auftauchen so wie SARS oder MERS und das Potenzial haben, sich in Windeseile über die ganze Erde zu verbreiten und Millionen Menschen zu töten. Affenpocken sind eine bekannte, sogar recht ungefährliche Größe, die sich mit recht einfachen und etablierten Methoden eindämmen lässt.