IT-Outsourcing in der Ukraine im Krieg: "Haben keinen einzigen Kunden verloren"

Der ukrainische IT-Sektor hält dem Angriffskrieg Russlands weiter stand. "Jeder arbeitet von überall mit dem Laptop", erläutert Verbandschef Vitaly Sedler.

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In den vier Monaten des bewaffneten Angriffskriegs Russlands hat sich die IT-Industrie der Ukraine "mit am resilientesten" erwiesen. Dies erklärte Vitaly Sedler, Präsident des Verbands der ukrainischen IT-Wirtschaft, am Mittwoch auf der Hub-Konferenz des deutschen Digitalverbands Bitkom in Berlin. Bereits vier Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar seien rund 80 Prozent der Mitarbeiter in der Branche wieder verfügbar gewesen, nach einer Woche habe die Produktivität bei 95 Prozent gelegen.

Der ukrainische IT-Sektor sei bereits durch die Corona-Pandemie gestählt gewesen, erläuterte Sedler die günstigen Voraussetzungen für eine Teamarbeit auch aus dem Homeoffice heraus: "Jeder arbeitet von überall mit dem Laptop." Die Unternehmen hielten oft nur noch einen Infrastrukturknoten im Netzwerk vor Ort parat, nähmen das Hub-Konzept also wörtlich. Zudem sei die Branche schon vorher ziemlich global ausgerichtet gewesen. Dies habe es erleichtert, neue Hubs etwa in Europa, den USA oder Indien zu öffnen.

Sedler, Bykanov und Zhovtanetskyy im Gespräch

(Bild: heise online / Stefan Krempl)

Auch die Zentrale des von ihm mitgegründeten und geführten IT-Systemhauses Intellias in Iwano-Frankiwsk (Stanislau) ist laut Sedler schon 2015 so gebaut worden, dass Teile des Gebäudes über einen speziellen Bombenschutz verfügten. Mitarbeiter vor Ort zögen sich bei Luftalarm dorthin mit ihren Notebooks zurück. Die Sicherheit der Angestellten stehe an oberster Stelle. Natürlich gebe es aber allgemeine wirtschaftliche Einschränkungen, einige lokale Geschäfte hätten ihren Betrieb eingestellt. Viele Angestellten müssten neben finanziellen auch mentale Probleme bewältigen.

Die mit gut 300.000 Beschäftigten recht große IT-Industrie des Landes habe viel Unterstützung etwa von deutschen Partnern erfahren, zeigte sich der Branchenvertreter erleichtert. Er appellierte ans Publikum, der Ukraine weiter beizustehen.

"Wir haben keinen einzigen Kunden oder Mitarbeiter verloren", freute sich Valeriy Bykanov, Gründer des inzwischen zur Globaldev Group gehörenden IT-Outsourcing-Spezialisten, über nach wie vor volle Auftragsbücher. "Das Geschäft läuft weiter." Das Unternehmen habe seine Kernstrukturen in den weniger umkämpften Westen der Ukraine verlagert sowie neue Hubs in Polen und Portugal aufgebaut. Er selbst wohnt mittlerweile in Berlin. Viele andere Industrien mit Produktionsstätten vor Ort seien deutlich schwerer vom Krieg betroffen.

Bykanov hofft, trotz der Belastungen auch künftig alle Beschäftigten in ihren Jobs halten zu können. Sein Appell an deutsche Firmen lautete, "möglichst viele Ukrainer einzustellen". Eine große Herausforderung sieht er für die IT-Branche des Landes: Die meisten Experten und Ingenieure seien männlich, die Diversität der Teams lasse zu wünschen übrig: "Wir müssen uns öffnen."

"Wir operieren auf 'normale' Weise", berichtete Nazariy Zhovtanetskyy, Chefstratege des auf Cloud-Lösungen ausgerichteten Unternehmens N-iX. Dieses habe 550 Leute migriert aus Gebieten in östlichen Landesteilen, "die wir als nicht sicher einschätzten". Die Dienstleistungen hätten aber nicht unterbrochen werden müssen. Zudem seien Kooperationen mit Mitarbeitern in Polen und Ungarn ausgeweitet und Maßnahmen im Bereich Cybersicherheit erhöht worden.

Der Alltag sehe vergleichsweise strukturiert aus, gab Zhovtanetskyy weitere Einblicke: Die Menschen "stehen früh auf, lesen Nachrichten, gehen zur Arbeit und versuchen, den Krieg nicht ständig an sich heranzulassen". Oft gebe es Luftalarm, woraufhin einige in Schutzräume gingen, andere nicht. Er selbst wohne in einem Dorf in der Nähe einer größeren Stadt, wo man am ehesten an Kraftstoff-Einschränkungen merke, dass die Zeiten ungewöhnlich seien.

"Dank Starlink funktioniert unsere kritische Infrastruktur weiter", begrüßte der ukrainische Minister für digitale Transformation, Mychajlo Fedorow, die Unterstützung mit Satelliteninternet durch das US-Unternehmen von Elon Musk. Die gesamte Cyberinfrastruktur sei "voll funktional im vierten Kriegsmonat". Viele IT-Firmen vor Ort funktionierten wie Startups, koordinierten und implementierten Projekte gemeinsam.

Mychajlo Fedorow

(Bild: heise online / Stefan Krempl)

Die in Westeuropa weitverbreitete Skepsis gegenüber den US-Internetriesen teilte der 31-Jährige nicht. Er riet den Regierungen Deutschlands und der EU, "mit Big Tech zusammenarbeiten" und so besser zu lernen, das Verhalten der Internetnutzer zu verstehen. In der Ukraine seien alle Verwaltungsdienste online innerhalb weniger Minuten über die Plattform DIIA verfügbar. Die App sei integriert mit staatlichen Registern, was es aktuell auch einfach mache, mit ein paar Klicks einen Raketenangriff und das eigene zerstörte Haus zu melden. Die IT-Branche weltweit sei vor allem gefragt, mit der ihr eigenen Kreativität "den nächsten Putin" zu verhindern.

Laut Bitkom fungiert die Ukraine mit ihren vielen jungen Tech-Unternehmen und IT-Spezialisten als "wichtiger Entwicklungspartner der digitalen Wirtschaft in Deutschland". Knapp 45 Prozent der Beschäftigung im IT-Sektor des Landes geht Beobachtern zufolge auf das Konto von Outsourcing etwa im Rest Europas.

(kbe)