Gaskrise: Was passiert, wenn das Erdgas knapp wird

Die Chemieindustrie meint, dass in einer Gasnotlage auch Privathaushalte sparen müssten. Söder spricht von einer Triage, Kommunen präparieren sich.

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Diese Rippen könnten im Winter kalt bleiben, weil Gas fehlt oder weil es zu teuer ist.

(Bild: heise online / anw)

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Die seit dem gestrigen Montag laufenden Wartungsarbeiten an der Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 verschärfen Befürchtungen, im kommenden Winter könnte es in Deutschland zu einem Gasmangel kommen. Grundsätzlich gilt, dass Privathaushalte, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und ähnliche Einrichtungen in Deutschland als besonders schützenswert gelten und nicht als erste betroffen sein würden, versicherte das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage von heise online. Die chemische Industrie stellt diesen Vorrang in Frage. Christian Dürr, FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, mahnt, Industrie und Verbraucher nicht zueinander in Konkurrenz zu setzen. Unterdessen bereiten sich Kommunen für den Ernstfall vor.

Falls Russland ein vollständiges Gas-Embargo verhänge, drohe der deutschen Wirtschaft ein Herzinfarkt, sagte Christian Kullmann, Chef des Chemieunternehmens Evonik und Präsident des Chemieverbands VCI der Süddeutschen Zeitung. "Ohne Chemie steht dieses Land still, denn chemische Produkte werden für 90 Prozent aller Produktionsprozesse benötigt." Auf die Frage, ob die Industrie bei der Gasverteilung gegenüber den Privathaushalten bevorzugt werden sollte, sagte Kullmann: "Was nützt es, wenn die Haushalte weiter Gas bekämen, es aber nicht mehr bezahlen könnten?"

Die Sicherung der Arbeitsplätze und damit das Einkommen für die Familien sei sehr wichtig, sagte Kullmann. "Sie steht für die Gesellschaft höher als die vollständige Sicherstellung der privaten Gasversorgung." Der FDP-Politiker Dürr brachte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk einen anderen Aspekt ins Spiel: "Wir hätten ein großes Problem, sollte die Grundstoffindustrie abgeschnitten werden." Ein Gasmangel könnte die Verbraucher direkt treffen, er denke da zum Beispiel an die Krankenhäuser, denen es an Schläuchen für die Dialyse mangeln könne. Überdies könne es zu massiven Lieferkettenproblemen kommen.

Dürr weist darauf hin, dass die Bundesregierung an der Problematik der Gasversorgung in einer Mängellage bereits arbeite; zum Beispiel mit dem Energiesicherungsgesetz und dem kürzlich geänderten Energiewirtschaftsgesetz, in dem es unter anderem um den Ersatz der Verstromung von Erdgas durch Kohlekraftwerke geht. Die Bundesregierung schaue sich weiter die Gesetzeslage an, sie müsste intelligent geändert werden, meint Dürr, Industrie und Verbraucher dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Rechtsgrundlage für die Gas-Priorisierung ist in Deutschland die EU-Verordnung über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung aus dem Jahr 2017 (PDF), der sogenannten SoS-Verordnung. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass alles Erforderliche getan wird, um in der gesamten EU und insbesondere für geschützte Kunden unter schwierigen klimatischen Verhältnissen oder bei Versorgungsstörungen eine unterbrechungsfreie Gasversorgung zu gewährleisten.

Als geschützte Kunden gelten vor allem Privathaushalte. Unter besonderen Voraussetzungen können bestimmte grundlegende soziale Dienste und Fernwärmeanlagen hinzugenommen werden. Die Mitgliedstaaten können "somit das Gesundheitswesen, grundlegende soziale Versorgung, Not- und Sicherheitsdienste als durch Solidarität geschützte Kunden behandeln, auch wenn diese Dienste von einer öffentlichen Verwaltung erbracht werden", heißt es in der Verordnung.

An diese SOS-Verordnung ist die Bundesnetzagentur gebunden, wenn sie "Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung" umsetzt. Diese wiederum weist heise online auf ein Papier namens " Lastverteilung Gas – Handlungsoptionen, Abwägungsentscheidung, situationsbedingtes Handeln " (PDF) hin. Darin schildert die Bundesnetzagentur ihre Handlungsoptionen als Bundeslastverteiler, dessen Aufgabe sie im Falle einer Gasnotlage übernimmt, der dritten Stufe des Notfallplans Gas. Bisher gilt in Deutschland die "Alarmstufe", die zweite Stufe des dreistufigen Notfallplans.

In dem Papier vom 17. Mai 2022 schreibt die Bundesnetzagentur zum Thema der Abwägung der Versorung von Industrien, sie wolle unterscheiden, "ob ein Unternehmen zur Grundstoffindustrie gehört, ob die bei einem gasmangelbedingten Produktionsausfall fehlenden Güter importiert werden können, sowie ob und in welchem Umfang Unternehmen in Lieferketten eingebunden sind". Dazu seien umfassende wirtschaftspolitische Informationen über die Binnenverhältnisse innerhalb der Unternehmen nötig. "Diese Informationen stehen der Bundesnetzagentur derzeit nicht zur Verfügung."

Offen sei derzeit auch, ob die Zugehörigkeit eines Unternehmens zu den "Kritischen Infrastrukturen" ein geeignetes Kriterium sei, um nicht-geschützte Letztverbrauchern zu differenzieren. "Die dortige Definition ist im Interesse der IT-Sicherheit eher weit gefasst und könnte sich als Grundlage für die Gaszuteilung in der Gasmangellage als zu weit gefasst erweisen", schreibt die Bundesnetzagentur.