Neue Theorie über den Auslöser des mysteriösen Hepatitis-Anstiegs bei Kindern ​

Lockdowns, eine Genvariante und zwei Viren, die sich in unseren Zellen verstecken, scheinen zusammen eine Rolle zu spielen.​​

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Kinder mit medizinischen Masken verlassen die Schule

(Bild: David Tadevosian/shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
Inhaltsverzeichnis

Hunderte von Kleinkindern auf der ganzen Welt sind ohne offensichtliche Ursache an schwerer Leberentzündung (Hepatitis) erkrankt und haben Ärzte vor ein Rätsel gestellt. Doch zwei neue Studien zeigen die möglichen Schuldigen auf: eine Kombination aus genetischen Faktoren, Lockdowns und mindestens zwei Viren, die zusammenwirken.

Im April dieses Jahres stellten Ärzte erstmals eine seltsame Häufung von Hepatitis-Fällen bei Kleinkindern in Schottland fest, die meist zwei bis fünf Jahre alt waren. Bis zum 8. April wurden 60 Fälle in ganz Schottland, England und Wales untersucht. Zu diesem Zeitpunkt verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1.010 wahrscheinliche Fälle der Lebererkrankung in 35 Ländern.

Die tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich höher, sagt Antonia Ho, eine Beraterin für Infektionskrankheiten am MRC-University of Glasgow Centre for Virus Research, die den Ausbruch untersucht hat. Ein Drittel der bisher gemeldeten Fälle ist in den USA aufgetreten.

Diese Fälle waren schwerwiegend: etwa fünf Prozent der weltweit infizierten Kinder benötigten eine Lebertransplantation, 22 sind gestorben. Weil sich bei diesen Kindern keines jener Viren fanden, die normalerweise eine Leberentzündung auslösen – etwa die Hepatitisviren A, B, C und E, das Cytomegalievirus oder Epstein-Barr-Virus –, war die Ursache des Ausbruchs weitgehend ein Rätsel.

Anfangs gab es zwei Verdächtige: SARS-CoV-2, das Virus hinter Covid-19, und das weit verbreitete Adenovirus 41, das häufig erkältungs- und grippeähnliche Symptome verursacht. Mit Hepatitis wurde es bisher überwiegend nur bei immunbeeinträchtigten Menschen in Verbindung gebracht. Als nun die Lockdowns beendet wurden und die Menschen nach einer Zeit ungewöhnlich niedriger Übertragungsraten wieder vermehrt zusammenkamen, schienen sich auch Adenoviren stark auszubreiten. Nun scheinen sich die Hinweise für Adenoviren etwas weiter zu erhärten.

Um Genaueres über die Ursachen herauszufinden, untersuchten Ho, Emma Thomson, Professorin für Infektionskrankheiten am MRC-University of Glasgow Centre for Virus Research, und ihre Kollegen in einer aktuellen Studie, die noch nicht das Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat, neun betroffene Kinder. Die Forscher verglichen sie mit 58 Kindern, die keine Hepatitis entwickelt hatten.

Das Team nahm Blut-, Leber- und Fäkalproben sowie Rachen- und Nasenabstriche der Kinder unter die Lupe. Während sie keine der Viren vorfanden, die normalerweise Hepatitis verursachen, wiesen sie in den Proben von sechs der neun Kinder das Adenovirus 41 (ein Spezies F-Adenovirus) oder eins der Spezies-C-Adenoviren nach. Bei drei von neun Kids fanden die Forscher das Herpesvirus 6B. Doch darüber hinaus fand das Team auch noch ein weiteres Virus, das so genannte Adeno-assoziierte Virus oder AAV-2. Dieser Erreger wurde in Proben von allen neun Kindern gefunden, die die ungeklärte Hepatitis hatten – nicht aber bei den Kindern, die keine Hepatitis hatten.

Die meisten Menschen infizieren sich mit AAV-2 bis zum Alter von zehn Jahren, und ein Großteil beginnt im Alter von drei Jahren, Antikörper dagegen zu entwickeln. Es wurde jedoch noch nie direkt mit menschlichen Erkrankungen in Verbindung gebracht, sagt Thomson.

Das Virus ist insofern ungewöhnlich, als es auf andere Viren angewiesen ist, um sich zu replizieren und Kopien von sich selbst zu erstellen. "In diesem Fall denken wir, dass das Adenovirus das Hilfsvirus ist", sagte Thomson bei einer virtuellen Pressekonferenz. Es ist möglich, dass die Infektion mit dem Adenovirus auf eine Infektion mit dem AAV-2 folgte oder dass beide Viren gleichzeitig zuschlugen, fügte sie hinzu. "Wir können im Moment noch nicht sagen, welches dieser Viren die Krankheit verursacht", sagte Thomson.

Aber die Viren sind noch nicht das Ende der Geschichte. Bei Gentests stellte das Team fest, dass die Kinder mit ungeklärter Hepatitis viel häufiger ein Gen namens DRB1*0401 aufwiesen. Acht der neun betroffenen Kinder (89 Prozent) besaßen dieses Gen, das sonst nur 16 Prozent der schottischen Bevölkerung aufweist. Dieses Gen beeinflusst die Funktionsweise des Immunsystems. Im Wesentlichen helfen die Proteine, für die es kodiert, den Immunzellen zu entscheiden, was sie zerstören sollen.

In einer weiteren Ende Juli ebenfalls als Preprint veröffentlichten Studie untersuchten die Forscherin Sofia Morfopoulou vom UCL Great Ormond Street Institute of Child Health (UCL GOSH ICH) in London und ihre Kollegen genetische Proben von 28 Kindern, von denen fünf eine Lebertransplantation hatten.

"Unsere Ergebnisse stimmen absolut mit denen der schottischen Gruppe überein", erklärte die Koautorin Judy Breuer, ebenfalls vom UCL GOSH ICH, auf derselben Pressekonferenz. In beiden Studien wurde AAV2 bei 96 Prozent der Kinder mit ungeklärter Hepatitis gefunden, aber nur bei vier Prozent der Kinder, die nicht an der Krankheit litten, so Breuer.

Seltsamerweise fand das Team zwar virale Gene und Anzeichen dafür, dass sich das Virus repliziert, aber keine Partikel des Virus selbst. Dies könnte bedeuten, dass das Virus eine indirekte Wirkung auf die Kinder hat, und untermauert die These, dass das eigene Immunsystem der Kinder dafür verantwortlich ist, dass es ihnen schlecht geht.

"Wir denken, dass AAV2 und/oder zusammen mit dem humanen Adenovirus eine unerklärliche pädiatrische Hepatitis bei Kindern auslösen können, die aufgrund [des Immun-Gens] dafür anfällig sind“, so Breuer.

Das Team suchte auch nach SARS-CoV-2. Doch keines der Kinder hatte eine aktive Covid-19-Infektion. Einige hatten Antikörper gegen das Virus, was darauf hindeutet, dass sie in der Vergangenheit an Covid-19 erkrankt waren – allerdings nur in der gleichen Häufigkeit wie der Rest der schottischen Bevölkerung. Dies und die Tatsache, dass der Hepatitis-Ausbruch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie auftrat, schließt Covid-19 als Ursache wahrscheinlich aus, so die Forscher.

Die Covid-19-Pandemie könnte jedoch indirekt zum Ausbruch der ungeklärten Hepatitis beigetragen haben. Maßnahmen zur Verringerung sozialer Kontakte, wie Lockdowns, trugen dazu bei, die Ausbreitung von Covid einzudämmen, hatten aber auch Auswirkungen auf die Ausbreitung anderer Infektionskrankheiten. So gingen zum Beispiel die Grippefälle und die Zahl der Todesfälle in den USA und anderswo drastisch zurück.

Der plötzliche Anstieg der Adenovirus-Fälle könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Kinder endlich wieder zur Schule gehen und sich wie früher unter andere Kinder mischen. "Es gibt unweigerlich eine Art Gleichgewicht, das wiederhergestellt werden muss", so Ho. "Viele saisonale Viren zirkulieren außerhalb dessen, was wir normalerweise von ihnen erwarten."

Thomson betont, dass das Rätsel noch nicht vollständig gelöst ist. Es handelt sich bisher um Korrelationen und keine erwiesenermaßen kausalen Zusammenhänge. Zudem waren beide Studien recht klein, hatten also nur wenige Probanden, und sie waren bisher nur Vorveröffentlichung, wurden also noch nicht wissenschaftlich geprüft und in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift abgedruckt. Aber das Bild scheint klarer zu werden.

Glücklicherweise scheinen die Fälle dieser mysteriösen Krankheit zurückzugehen, obwohl die WHO darauf hinweist, dass sie nicht über vollständige und aktuelle Informationen aus allen Ländern verfügt.

Die Forscher halten es für wahrscheinlich, dass ähnliche Hepatitis-Fälle schon seit Jahren "dahintröpfelten", aber erst jetzt dank des Ausbruchs offensichtlich werden. "Solange man keine Häufung [von Fällen] sieht, untersucht man nicht auf dieselbe Weise", so Breuer.

(vsz)