Nach EuGH-Urteil: Bayern drängt auf Vorratsspeicherung von IP-Adressen

In der Ampel stehen nach dem EuGH-Urteil fast alle Zeichen auf das Einfrieren von Verkehrsdaten bei Verdacht (Quick Freeze). Doch es gibt Gegenstimmen.

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(Bild: Timofeev Vladimir/Shutterstock.com)

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Nach dem erneuten Nein des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu einer allgemeinen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung geht die Debatte über Alternativen hierzulande in die Vollen. Bürgerrechtler, Datenschützer und die Internetbranche machen Druck, das seit Jahren umstrittene Instrument endgültig zu beerdigen sowie Verbindungs- und Standortdaten nur noch im Verdachtsfall zu erheben. Gerade aus Bayern kommen aber andere Töne.

"Die vom EuGH eingeräumten Spielräume für die Verkehrsdatenspeicherung insbesondere von IP-Adressen müssen vor allem zum Schutz der Kinder vor schweren Verbrechen genutzt werden", betonte der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU). Gerade im "Kampf gegen Kinderpornografie und sexuellen Kindesmissbrauch" seien diese Daten erforderlich: "Jeder Fall, der nicht aufgeklärt und gestoppt werden kann, ist einer zu viel." Auch bei der Verfolgung von Terroristen, Waffenschiebern und Drogenhändlern seien IP- Adressen oft die wichtigste oder sogar die einzige Spur.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ergänzte: "Ideologisch übertriebener Datenschutz wäre falsch verstandener Täterschutz. Das darf sich ein Rechtsstaat nicht leisten. Unsere Ermittler von Polizei und Justiz brauchen zur Bekämpfung bestimmter schwerer Straftaten unbedingt Verkehrsdaten wie IP-Adressen." Er werde die Auswirkungen des Urteils zu einem Schwerpunkt der gemeinsamen Sitzung der deutschen Innenminister und Justizminister am 27. September in München machen.

Zuvor hatte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ebenfalls vor allem mit Blick auf den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch für eine auf IP-Adressen beschränkte Vorratsdatenspeicherung starkgemacht. Eine solche Maßnahme erachtete der EuGH wiederum prinzipiell als vereinbar mit dem EU-Recht.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach angesichts des Urteils auf Twitter von einem "guten Tag für die Bürgerrechte". Der EuGH habe "in einem historischen Urteil bestätigt: Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ist rechtswidrig." Die Bundesregierung werde dieses Instrument daher "nun zügig und endgültig aus dem Gesetz streichen".

Mit "Quick Freeze" liege ein rechtssicheres Instrument auf dem Tisch, führte der parlamentarische Justizstaatssekretär Benjamin Strasser (FDP) aus. Bei diesem Verfahren sollen Telekommunikationsanbieter Verkehrsdaten bei einem konkreten Tatverdacht schnellstmöglich "einfrieren", um dann Täter identifizieren und sie der Strafverfolgung zuführen zu können. Strasser weiter: Sinnlose Debatten über eine "umetikettierte anlasslose Datenspeicherung sollten wir uns aufgrund des Koalitionsvertrages sparen".

"Die Vorratsdatenspeicherung gehört auf die Müllhalde der Geschichte", verlangten der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz und Helge Limburg, Sprecher für Rechtspolitik. Sie stelle alle Bürger unter Generalverdacht – und habe die in sie gesetzten sicherheitspolitischen Erwartungen nie erfüllen können. Dass die einschlägigen Gesetzesklauseln trotz der seit Langem bekannten Linie der EuGH-Rechtsprechung bislang nur ausgesetzt seien, bezeichneten sie als "rechtspolitisch höchst fragwürdiges Vorgehen".

"Für eine – wie auch immer geartete – Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung sehen wir weder rechtlichen noch politischen Spielraum", stellten von Notz und Limburg klar. Sie begrüßten, dass der Bundesjustizminister im Einklang mit dem Koalitionsvertrag und den "zwischen den Häusern intensiv abgestimmten Vorhabensplanungen" bereits gemeinsam mit dem Innenministerium an einem Gesetzentwurf für eine Quick-Freeze-Regelung arbeite. Es sei überfällig, die ebenfalls vereinbarte Überwachungsgesamtrechnung auf den Weg bringen und "insgesamt eine zielgerichtete Sicherheitspolitik" zu verfolgen.

Das Ampel-Bündnis hat vereinbart: "Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können."

"Wir haben als eco-Verband der Internetwirtschaft sechs Jahre für dieses Urteil mit unserem Mitgliedsunternehmen SpaceNet AG gekämpft", erklärte eco-Geschäftsführer Alexander Rabe. Jetzt ist es an der Zeit für die Bundesregierung, "konsequent ihren eigenen Koalitionsvertrag umzusetzen und Abstand von diesem Instrument zu nehmen." SpaceNet-Vorstand Sebastian von Bomhard meinte, es gebe geeignetere Mittel wie Quick Freeze, "um gegen schwere Kriminalität vorzugehen".

Mit dem Urteil "beerdigt der EuGH faktisch die Vorratsdatenspeicherung", zeigte sich Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des IT-Verbands Bitkom, zuversichtlich. Es ergebe keinen Sinn, sich weiter an diesem Instrument abzuarbeiten. Die Politik müsse "andere und zwar gesetzeskonforme Möglichkeiten der digitalen Forensik" nutzen.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber twitterte: "Mein großer Wunsch: Ab heute endgültig Schluss mit Debatten über anlasslose Vorratsdatenspeicherungen." Stattdessen sollten Instrumente gestärkt werden, "die helfen, ob präventiv oder bei der Strafverfolgung", ohne dabei Grundrechte infrage zu stellen.

Faeser müsse nun überlegen, ob sie den "gescheiterten Kult" und die "verfehlte Ideologie ihrer Vorgänger" im Innenministerium fortsetzen oder etwas für Opfer tun wolle, mahnte Henning Tillmann vom digitalpolitischen Verein D64, der der SPD nahesteht: Er empfahl der Sozialdemokratin, neu zu denken und "rechtssichere Instrumente" wie die Login-Falle umzusetzen.

Über 20 zivilgesellschaftliche Organisationen warnten am Montag unter der Ägide des Arbeitskreises gegen Vorratsdatenspeicherung in einem offenen Brief an die Ampel-Koalition, auch ein anlassloses Protokollieren von IP-Adressen wäre "zum Schutz von Kindern ungeeignet und ein schwerer Eingriff in Grundrechte".

IP-Adressen könnten zur umfassenden Nachverfolgung der von einem Internetnutzer besuchten Internetseiten und infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden, heißt es in dem Schreiben. Es drohten das Ende der Anonymität im Internet und unzumutbare Folgen etwa für Opfer von Gewalt- oder Sexualdelikten sowie Presseinformanten. Patrick Breyer, langjähriger Mitstreiter in dem Arbeitskreis und EU-Abgeordneter für die Piratenpartei, erläuterte: "IP-Adressen sind wie unsere digitalen Fingerabdrücke."

"Es wird Zeit, dass die politisch Verantwortlichen die Vorratsdatenspeicherung ein für alle Mal begraben und statt dessen grundrechtskonforme Alternativen entwickeln", betonte Sebastian Marg vom Verein Digitale Gesellschaft, der den Brief mit unterzeichnet hat. Die langjährigen Auseinandersetzungen hätten nicht nur zu einer massiven Verunsicherung über die geltende Rechtslage geführt, sondern auch gezeigt, dass eine anlasslose Massenüberwachung das Gegenteil einer den Grundrechten der Bevölkerung verpflichteten Politik sei.

Das anlasslose Protokollieren von Verbindungs- und Standortdaten "ist keine rechtsstaatliche Ermittlungsmaßnahme, sondern – egal, wie man es dreht oder wendet – eine grundrechtswidrige Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung", bestätigte Padeluun vom Verein Digitalcourage, der die noch laufende Verfassungsbeschwerde mit ins Rollen brachte. Die Politik müsse sich von "jeglicher Vorratsdatenspeicherung verabschieden", statt sie ständig in neuem Gewand wiederzubeleben.

Das verdachtsunabhängige Sammeln von Verkehrsdaten greife gravierend in die Privatsphäre ein und verunsichere Bürger sowie IT-Wirtschaft gleichermaßen, hob Christine Regitz, Präsidentin der Gesellschaft für Informatik (GI), hervor. "Sie untergräbt das Vertrauen in sichere Internetkommunikation und gefährdet dadurch die dringend notwendige Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung." Anstatt dieses tote Pferd weiterzureiten, sollte die Bundesregierung dringend datensparsamere Alternativen entwickeln.

(olb)