Pflicht zur Arbeitszeiterfassung: Welche Reaktionen es darauf gibt

Das oberste Arbeitsgericht hat entschieden: In Deutschland besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Unklar bleibt, wie das umgesetzt werden soll.

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(Bild: And-One / shutterstock.com)

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Von
  • Peter Ilg
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Was lange währt, wird nun wahr. Der Europäische Gerichtshof hatte im Mai 2019 entscheiden, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Arbeitgeber ihres Landes dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem bereitzustellen, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten gemessen werden kann. Damit sollen die Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtline umgesetzt werden. Dieses sogenannte Stechuhr-Urteil ist die gesetzliche Grundlage für das Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Es verpflichtet mit seinem Urteil Anfang September dazu, in Deutschland Arbeitszeiten aller Beschäftigen systematisch zu erfassen.

Auslöser für den Gerichtsentscheid von Erfurt war ein Fall, in dem es um die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Art der Zeiterfassung ging. Die Forderung der Mitarbeitervertretung zur elektronischen Zeiterfassung lehnte das Bundesarbeitsgericht ab, fällte aber das höchstrichterliche Urteil zur Zeiterfassung. Diese steht jetzt im Raum und es ist fraglich, wie die Pflicht umgesetzt werden soll. Der Gesetzgeber hat drei Jahre auf das Stechuhr-Urteil nicht reagiert. Jetzt haben die Richterinnen und Richter vom Bundesarbeitsgericht nationale Fakten geschaffen.

„Überstürzt und nicht durchdacht“, bewertet Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, das Urteil. Das Bundesarbeitsgericht überdehne mit seiner Entscheidung den Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes deutlich. „Der Europäische Gerichtshof hat zum spanischen Recht eine Pflicht zur Schaffung eines Systems der Erfassung begründet. Umstritten ist, dass Deutschland diese umsetzen muss“, sagt Kampeter. Die deutsche Wirtschaft brauche diese Verpflichtung nicht, denn „damit werden Beschäftige und Unternehmen ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert“. Diese Entscheidung dürfe nicht dazu führen, dass bewährte und von den Beschäftigten gewünschte Systeme der Vertrauensarbeit infrage gestellt würden.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB begrüßt die Entscheidung aus Erfurt. „Diese Feststellung ist lange überfällig: Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus und die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau“, sagt Anja Piel aus dem Vorstand des DGB. Arbeitszeiterfassung sei kein bürokratischer Selbstzweck, sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten würden – was heutzutage viel zu oft nicht der Fall sei. „Das Urteil bedeutet mitnichten das Ende von Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice“, sagt Piel. Arbeitgeber müssten aber ihrer Verpflichtung zum Arbeitsschutz auch bei diesen Modellen nachkommen und dafür sorgen, dass vorgegebene Zeiten eingehalten werden. Das könnten sie, indem sie ein objektives, verlässliches und zugängliches System einführen, mit dem die Arbeitszeit erfasst wird.

Für vollkommen abwegig hält Piel „die oft von Arbeitgebern geäußerte Fantasie der ausnahmslosen Rückkehr der Stechuhr“. Das zeuge von mangelnder Vorstellungskraft. „Wir leben schließlich im digitalen 21. Jahrhundert und eine Zeiterfassung ist so einfach wie nie zuvor.“ Für den DGB ist Arbeitszeiterfassung Arbeitsschutz.

Die Positionen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sind klar, jeder vertritt seine Meinung. Aber so weit sie auseinanderliegt, ist die gängige Praxis bei Weitem nicht. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen alle Arbeitszeiten über 8 Stunden aufgezeichnet werden. Das gilt auch für Sonn- und Feiertagsarbeit. Darüber hinaus gibt es besondere Regelungen für bestimmte Branchen und Beschäftigte. Dazu zählen Beschäftige mit Mindestlohn und Minijobber, das Bau- und Gastgewerbe, Gebäudereinigung und Personenbeförderung. Außerdem wird in zahlreichen Unternehmen ohnehin die Arbeitszeit erfasst, damit das Gleitzeitsystem funktioniert.

„Laut unserer Befragung aus dem vergangenen Jahr dokumentieren knapp 80 Prozent aller Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst oder sie wird betrieblich erfasst“, sagt Nils Backhaus, Arbeitswissenschaftler in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Zwei Drittel aller Beschäftigen haben ein Arbeitszeitkonto. Nur jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland erfasst seine Arbeitszeit nicht oder sie wird nicht vom Arbeitgeber aufgezeichnet. So radikal wie der Arbeitgeberverband eine Veränderung durch das Urteil befürchtet, kann sie nicht sein. Die Bundesanstalt ist schließlich eine Bundesbehörde. Deren Zahlen dürften uneigennützig sein.

Aus Sicht des Arbeitsschutzes sei eine lückenlose Arbeitszeiterfassung positiv zu beurteilen, meint Backhaus. „Wer seine Arbeitszeit nicht erfasst, kann sich nicht vor sich selbst schützen.“ Häufig sind es Wissensarbeiter, die kein Ende vom Arbeitstag finden. „Das Urteil zwingt nun auch zur Definition, was zur Arbeitszeit gehört und was nicht“, sagt Backhaus. Nun würde hoffentlich geklärt, ob ständige Erreichbarkeit mit Arbeitszeit gleichzusetzen sei oder nicht.

Der Arbeitswissenschaftler hält das Urteil für gut und ein Zurück zur Stechuhr gebe es nicht, wegen einer Vielzahl an digitalen Möglichkeiten zur Zeiterfassung. Der Vorwurf, dass Arbeitszeiterfassung die Arbeitswelt starr macht, stimme noch weniger. „Flexibilität funktioniert nur mit Aufzeichnung der Arbeitszeit.“ In der Vertrauensarbeitszeit gebe es keine Dokumentation und damit auch keinen Nachweis dafür, dass ein Mitarbeitender sagt, er wolle übermorgen frei, um seine Überstunden abzubauen. Wenn die Arbeitszeit erfasst wird, dann schon.

Die Debatte um die Erfassung der Arbeitszeit würde schon drei Jahre geführt. „Es ist gut, dass sich das oberste Arbeitsgericht damit auseinandersetzt und eine Lösung herbeiführt“, sagt Backhaus. Nun sei der Gesetzgeber gefordert, Regeln für eine lückenlose Erfassung der Arbeitszeit zu schaffen.

(mki)