Grünen-Debatte über Chatkontrolle: "Aufgeben ist keine Option"
Schurkenstaaten und Plattformen überwachten die Nutzer eh bereits, hieß es von Kinderschützern bei einem Fachgespräch der Grünen. Datenschützer hielten dagegen.
Das Verhältnis zwischen Kinder- und Datenschutz stand am Montag im Fokus eines Fachgesprächs der Grünen-Fraktion im Bundestag zum Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zum Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern. Die vielfach zu hörende Kritik an damit verknüpften Instrumenten wie Chatkontrolle und Altersprüfungen könne sie nicht ganz nachvollziehen, meinte dabei eine Mitarbeiterin der Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus. Online-Unternehmen wie Google oder Facebook nähmen längst eine Altersverifizierung etwa anhand Suchhistorie vor. Die EU werde Schurkenstaaten zudem nicht davon abhalten können, auf dem Markt verfügbare Überwachungstechniken zu nutzen.
Gefahr für Kryptomessenger
"Aufgeben ist keine Option", konterte die schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Marit Hansen. Wenn mit der europäischen Initiative etwa gar kein Messenger mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mehr möglich wäre, hätte die EU einen "schlechten Standard gesetzt". Sie erwarte von den europäischen Gesetzgebern das Gegenteil, nämlich dass sie Werkzeuge zum Kinderschutz "auf rechtsstaatlich trimmen".
Mit dem Entwurf könnten auch Anbieter durchgängig verschlüsselter Messaging- und anderer Kommunikationsdienste wie WhatsApp, Apple, Signal und Threema über behördliche Anordnungen dazu verpflichtet werden, Fotos und Videos von Kindesmissbrauch in den Nachrichten ihrer Nutzer ausfindig zu machen und die private Kommunikation flächendeckend zu scannen. Datenschützer hätten dagegen "schwere Bedenken", hob Hansen hervor. Wenn Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen oder das Heranpirschen von Tätern an Kindern übers Internet (Grooming) finden wolle, müsse man dafür "an irgendeiner Stelle" etwas aufbrechen.
Die Kommission skizziere zwar Schutzmaßnahmen, ist der Leiterin der Aufsichtsbehörde nicht entgangen. Wie diese funktionieren sollten, sei aber nicht nachvollziehbar. Da es auch um das Auffinden noch unbekannter Missbrauchsaufnahmen etwa mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) gehe, dürften eine Menge falscher Treffer und Verdachtsfälle dabei sein. Ein Personenbezug sei dabei unmittelbar vorhanden, was zu massiven Grundrechtseingriffen führe. Die vorgesehene Altersverifikation sei ferner "an sich schon ein Problem". Insgesamt sei das Vorhaben so nicht verhältnismäßig.
Verschiedenste Risiken
Am Ende eines absehbaren Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof dürfte die Grundrechtswidrigkeit des Gesetzes in seiner jetzigen Form sein, prognostizierte auch Felix Reda von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Durch den Angriff auf Verschlüsselung werde auch die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit gefährdet, zumal der Entwurf auch Netzsperren gegen einzelne URLs, also auch Unterseiten von Webangeboten vorsehe. Auch solche Blockaden wären nicht möglich, ohne verschlüsselte Verbindung zu untergraben. Beim Online-Banking könnten Daten so von Betrügern ausgelesen werden.
Reda rieb sich auch an der geplanten Auflage für App-Stores zu verhindern, dass Anwendungen mit großem Risiko für digitale Gewalt von Jugendlichen überhaupt heruntergeladen werden können. Sollten diese dafür auf eine Altersverifizierung mit Ausweis setzen, wäre dies auch eine Klarnamenspflicht und mit Vorgaben zur größtmöglichen Anonymität und Pseudonymität nicht vereinbar. Erfolge eine Altersbestimmung an einem Nutzerfoto per automatisierter Gesichtserkennung, würden damit sehr sensible Daten verarbeitet und dieser Schritt womöglich an Dritte ausgelagert.
Vor dem Versuch, komplexe gesellschaftliche Probleme mit einfachen technologischen Lösungen zu erschlagen, warnte Elina Eickstädt vom Chaos Computer Club. Schon gar nicht dürften solche Ansätze von Betreibern erwartet werden, "die wir wegen Überwachungskapitalismus eigentlich ablehnen".
Nicht nur das Darknet im Visier
Eine Mitarbeiterin des Kinderhilfswerks stellte dagegen auf datenschutzfreundliche Ausweisprüfverfahren etwa über eine E-Wallet ab, bei denen nur die Information geteilt werde, ob ein Nutzer eine Altersschwelle erreicht habe. Sie erinnerte zudem daran, dass ein Großteil der internationalen Staatengemeinschaft vereinbart habe, im Zweifelsfall dem Kindeswohl Vorrang einzuräumen.
Von einem "Spagat" sprach Jutta Croll von der Stiftung Digitale Chancen. Eine Altersprüfung etwa widerspreche der Datensparsamkeit. Trotzdem gehe es nicht um das Ob, sondern nur das Wie einer rechtsstaatlichen Regelung. Der vorgeschlagene Prozess, der zu einer "Aufdeckungsanordnung" an Diensteanbieter führe, sehe in diesem Sinne bereits sechs Schritte auch mit Optionen für die betroffenen Firmen vor, Kommentare abzugeben und Rechtsmittel einzulegen. Das Verfahren würde so mehrere Monate und damit "einfach zu lange" dauern.
Dies sei aber nötig, um Willkür zu verhindern, unterstrich Croll. Autoritäre Staaten wie Russland machten es sich da einfacher: dort gebe es qua definitionem keine Pornografie und so auch keine Missbrauchsdarstellungen von Kindern. Zugleich widersprach sie der Auffassung, dass die dunkelsten Verbrechen im Darknet kursierten. Live-Streams von sexueller Gewalt gegen Kinder etwa erfolgten übers offene Internet auf Bestellung.
Zahl der Hinweise steigt dramatisch
"Wir brauchen Personal", warb Lars Oeffner von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Schleswig-Holstein vor allem für mehr Mittel. Vor zehn Jahren hätten die deutschen Behörden rund 2000 Meldungen vom National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) in den USA bekommen. An dieses leiten Konzerne wie Meta mit Facebook und Instagram sowie Google und Microsoft einschlägige Funde weiter, die auf Basis einer EU-Interimsbestimmung Nutzernachrichten aktuell freiwillig durchsuchen dürfen.
Jetzt seien 2021 etwa 80.000 Hinweise über die US-Sammelstelle gekommen, führte Oeffner aus. Ein Sachbearbeiter habe so teils über 100 Fälle auf dem Schreibtisch, von denen jeder einzelne schwer belastend sei. Der Großteil der Bestandsdatenauskünfte zu den gelieferten IP-Adressen funktioniere zwar, erklärte der Cybercrime-Experte. Das Bundeskriminalamt führe diese Abfragen "mit einem riesigen Kraftakt innerhalb weniger Stunden" durch. Es könnte aber auch anders laufen: "Sobald eine Komponente wegbricht und wir über 7 Tage sind, bekommen wir keinerlei Daten." Der Kriminalbeamte warb daher für die umstrittene Vorratsspeicherung von IP-Adressen.
"Es darf da keine anlasslose Überwachung geben."
Ordentliche Ressourcen bei der Polizei und die Vernetzung deren Arbeit mit Justiz und Hilfsorganisationen stehen auch für Joachim Türk, Vorstandsmitglied beim Deutschen Kinderschutzbund, neben sicheren Online-Räumen für Kinder im Vordergrund. "Für uns ist die Chatkontrolle auch Bruch von Kinderrechten", warb er für mildere Mittel. Sonst würden vor allem auch Jugendliche zu Verdächtigen, die sich als Teil ihrer Kultur untereinander Nacktbilder schickten ("Sexting").
Andererseits befürchtete Türk aber, dass die Strafverfolger blind würden, wenn die zeitlich befristete EU-Erlaubnis zum Scannen auslaufe. Dieses sollte verpflichtend werden, war die Abgrenzung zur Chatkontrolle bei ihm so doch nicht eindeutig. Das als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung diskutierte Quick Freeze reiche: Wenn 5 bis 6 Prozent der Fälle nicht zu Ende gebracht werden könnten, sei dies akzeptabel. Prinzipiell sei er sich sicher, "dass bei fast allen Fällen von Missbrauch eine Online-Komponente drinsteckt". Selbst wenn die Anbahnung im Verein stattfinde, erfolge die spätere Kommunikation dann per WhatsApp.
Missbrauch geschehe vor allem im Nahfeld und kontinuierlich, konstatierte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne). Ihr Haus habe daher die Kampagne "Schieb den Gedanken nicht weg!" gestartet. Die Bundesregierung begrüße, dass das Thema mit der Kommissionsinitiative so viel Aufmerksamkeit erfahre. Grundrechtseinschränkungen müssten aber abgewogen, private Chats ausgenommen werden: "Es darf da keine anlasslose Überwachung geben." Eine sichere Verschlüsselung müsse zudem weiter möglich sein. Das Kabinett feile aber noch an einer gemeinsamen Linie und habe daher bislang keine Änderungsanträge in den EU-Rat eingebracht.
Druck aus Hollywood
Bereits am Mittwoch hatten sich Befürworter der Chatkontrolle wie EU-Innenkommissarin Ylva Johannson, die sozialdemokratische EU-Abgeordnete Eva Kaili sowie Vertreter der Ratspräsidentschaft und Europols zu einem Austausch im EU-Parlament getroffen. Promi-Redner war Hollywood-Star Ashton Kutcher, der sich per Video einklinkte. Der Schauspieler entwickelt mit den von ihm mitgegründeten Organisationen Thorn und Safer Detektionssoftware für Missbrauchsdarstellungen. Er feierte die EU als "Pionier" bei der Gesetzgebung, die weltweit ausstrahlen dürfte. Die Kommission wiederum stützt sich bei ihrem Vorhaben auf unbelegte Angaben von Safer.
(mho)