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Was war. Was wird. Von Schwarzmarkthändlern und Vorzügen natürlicher Intelligenz

Da ist wieder einer weg, der unendlich fehlen wird, trotz aller tiefen Gegensätze, die zu Widerspruch reizten, trauert Hal Faber. Eskapismus und NI, bitte.

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Kommunikation, Natur, Vögel, Bäume

(Bild: Lightspring / shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Vom Schwarzmarkt-Millionär und Zigarettenschmuggler schaffte er es schnell zum deutschen Dichterfürsten, der mit den 33 Gesängen zum "Untergang der Titanic" sein Meisterwerk ablieferte, so H.M.E. über H.M.E. Nun sind die Feuilletons voll mit Nachrufen zum Tode von Hans Magnus Enzensberger, der den Westdeutschen Noam Chomsky vorstellte und mit dem Kursbuch zahlreiche Autoren in den bornierten Kulturbetrieb einführte: "Kursbücher schreiben keine Richtung vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität." Mit dem Kursbuch Nummer 8 startete im März 1967 die kritische Informatik in Deutschland. Enzensberger, der mit dem "Zahlenteufel" das schönste Mathematikbuch für Kinder geschrieben hat und dafür mit dem Enzensberger-Stern geehrt wurde, ließ seinerzeit den berühmten Aufsatz von Alan M. Turing unter dem Titel "Kann eine Maschine denken?" aus dem Amerikanischen (!) übersetzen. Er stellte dem Aufsatz einen hübschen Satz aus Shakespeares Hamlet voran: "Der Spaß ist, wenn mit seinem eigenen Pulver der Feuerwerker auffliegt." Auf Turing folgte im besagten Kursbuch John von Neumann mit seiner Automatentheorie und Claude Levi-Strauss mit einem Text, der in der Mathematik die Verwirklichung des alten Menschheitstraumes einer lingua universalis sah, eben eine Mathematik vom Menschen. Im Kommentar zur Textauswahl machte sich Enzensberger lustig über "die Nervösität von Autoren, die mit den Apparaten wetteifern zu müssen glauben oder schon kapituliert haben." Nervösität? Panik? "Nur keine Panik, Überstehen ist alles", heißt es in einem seiner Zehn-Minuten-Essays. PANIC! So jedenfalls lautete Enzensbergers Namensvorschlag für das HNF, ausgeschrieben "Paderborner Nixdorf Computermuseum", in dem sein Credo den Eingangsbereich des Museums ziert:
"Alles, was in diesem Museum zu sehen ist, wird von der Natur übertroffen. Ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Mannigfaltigkeit kann die Technik nicht das Wasser reichen. Sie arbeitet wunderbar, aber sehr langsam. Ihre Evolution braucht Millionen von Jahren. Das hat einen einfachen Grund: Pflanzen und Tiere können Erfahrungen nicht beliebig austauschen und von einer Generation an die andere weitergeben. Der Mensch ist die einzige Spezies, die ihre eigene Geschichte beschleunigen kann. Nur der Mensch verfügt über Medien, die es ihm erlauben, sich über das, was er gelernt hat, zu verständigen. Er kann seine Erfahrungen speichern und vererben. Das wichtigste dieser Medien ist die Sprache. Die Fähigkeit, natürliche Sprachen zu erwerben und zu gebrauchen, ist genetisch verankert. Alle weiteren Medien beruhen auf dieser Grundlage. Sie sind 'unnatürlich'", Produkte einer zweiten, der kulturellen Evolution: Bilder-, Knoten-, Keil- und Buchstabenschriften, abstrakte Codes wie Noten, Ziffern und andere Symbole und visuelle Medien aller Art. Letzten Endes lassen sich alle diese Zeichen in analoge oder digitale Signale umwandeln. Damit werden sie zu technisch manipulierbaren Daten. Hand in Hand mit diesen vielfältigen Codes entwickeln sich auch die Techniken der Speicherung und der Reproduktion. Ein entscheidender Schritt auf diesem Wege war der Buchdruck. Die schrittweise Überwindung des Raumes durch Post, Telegraf, Telefon und Funk führt von der lokalen Kommunikation zur weltweiten Vernetzung. Mehr als alle politischen Ideen hat die Informationstechnik zur Globalisierung der menschlichen Gesellschaft beigetragen. Der bisher letzte Schritt der Mediengeschichte ist die Entwicklung des Computers, des Chips, seiner vielfältigen Anwendungen. Unser Zugriff auf Netz, Speicher, Rechenkapazität ist nahezu unbegrenzt. Was wir damit anfangen, steht in den Sternen."

*** Ja, das konnte Enzensberger: elegant die Zusammenhänge, die Verbindungen aufzählen und erklären. Wie wäre es mit der Frage 26 von 99 Fragen aus dem Jahre 2010 über die Politikverdrossenheit und die Medien? "Sie zu erzeugen gehört zum Businessplan aller Medien. Wir sind darin geübt, ihre Zumutungen zu ertragen, nicht nur, was die Politik betrifft. Der Sport ist schlimmer. Ganze Wochen, in denen sich die FIFA oder das IOC als Weltregierung aufspielt. Wenn Sie so wollen: Nach dieser Fußballweltmeisterschafts-Übung bin ich fußballverdrossen." Nun müssen ohne Enzensberger die Zusammenhänge gesehen werden oder eben die Vorhänge: Gestern wurde unweit von Paderborn in Nürnberg eine Turing-Oper uraufgeführt. Die verlinkte Pressemeldung spricht von einem Nerd, der von der Realität "platt gewalzt" wird. Das klingt etwas einfach. Origineller ist der Theaterkritiker, der sich freut, dass die Gefährtin Turings eine Künstliche Intelligenz namens Joan ist und von einer Sängerin gesungen wird. Ob das Ganze mit der Turing-Oper der Pet Shop Boys konkurrieren kann? Da habe ich meine Zweifel. Richtig rund wird so eine Oper erst, wenn das Libretto von der KI Anic T. Wae verfasst wird und die Sängerin von Boston Dynamics mit einem Salto die Bühne erklimmt.

*** Ganz sicher wird eines Tages eine Oper oder ein Musical über Chelsea Manning das Leben und Leiden dieses Menschen erzählen. Manning hat ein Buch über ihre Entwicklung geschrieben und tourte zu Buchwerbezwecken durch das Land. Dabei entstanden eine Reihe von Interviews, etwa dieses Gespräch mit der tageszeitung mit den klugen Worten: "Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu. Ich glaube nicht, dass der Bogen sich einfach von allein neigt. Es braucht einen konstanten Druck dafür. Aber ich glaube, dass diese Art Druck möglich ist." In einem anderen Interview will der Fragende unbedingt wissen, ob Julian Assange ein Held ist und Manning antwortet darauf, dass solche Einordnungen zur Boomer-Mentalität des 20. Jahrhunderts gehören, die nichts mehr mit der Realität unseres Jahrhunderts zu tun haben: "Wenn, dann ist Heldentum der Überlebenskampf von uns Menschen im 21. Jahrhundert." Über Assange entspann sich ein bemerkenswerter Dialog:
"Sie sind sich nie begegnet, aber ihrer beider Leben wird auf immer miteinander verbunden sein."
"Das sehe ich nicht so."
"Wieso nicht? Sie haben ihm 2010 die Regierungsdokumente übermittelt, er hat sie veröffentlicht. Sie sind beide dafür ins Gefängnis gegangen."
"Ich weiß nicht, wem genau ich die Dokumente geschickt habe. Mein Eindruck war, dass mehrere Personen beteiligt waren."
"Aber warum sollte Sie nichts mit Assange verbinden?"
"Ich weiß nicht, wer er ist, ich weiß überhaupt wenig über ihn. Mein Leben kann nicht mit jemandem verbunden sein, den ich nicht kenne. Ich habe Freunde, Familie und ein eigenes Leben. Ich bin ich selbst."

So einfach ist das, wenn eine menschliche Intelligenz im Spiel ist.

Die Ampel-Regierung hat das Bürgergeld vermasselt, indem sie Zugeständnisse an die CDU/CSU machte. Es ändere sich einiges in der Grundsicherung, doch um einen Systemwechsel handele es sich nicht, befand das Blatt der klügeren Köpfe. In Deutschland wird im kommenden Jahr damit Merz IV eingeführt, in bleibender Erinnerung an einen Politiker, dem langsam die Maßstäbe verloren gehen. Neben der Geldfrage hat er sich über die Klimaaktivisten der Letzten Generation geäußert und ihnen Vandalismus vorgeworfen. Das ist ein Tatbestand, den es im deutschen Strafrecht nicht gibt. Aber was kümmert das einen Politiker, der Menschen ohne Gerichtsverhandlung wegsperren will, und dazu twittert: "Ich weiß, die meisten werden im Gefängnis nicht besser. Aber solange sie sitzen, ist draußen Ruhe." Ruhe ist für Merz die erste Bürgerpflicht, vor der diese lästige Klimakrise in den Hintergrund zu treten hat. Zur guten deutschen Ruhe gehören Hausdurchsuchungen bei Personen im Umfeld der Letzten Generation, wie dies in Leipzig in dieser Woche passiert ist. Dabei wurden mehrere IPCC-Berichte beschlagnahmt, deren strafrechtliche Relevanz geprüft werden soll. Wenn Material beschlagnahmt wird, das zum Schutz des menschlichen Lebens auf der Erde aufruft, ist der Terror nicht weit. Wahrscheinlich sind die Schriften genauso gefährlich wie die Texte: der RAF. Terroristenfahndungsplakate hat es diese Woche auch noch geben. Doch da war es mit der staatsbürgerlichen Ruhe schnell vorbei, da stiegen sie alle, die Klimaleugner, wie die vom "Blut an den Händen" faselnden Journalisten auf die Stammtische bei Twitter.

"Auch wer zu früh kommt, den bestraft das Leben." Das schrieb Enzensberger 2019 in "Fallobst", nicht Gorbatschow. Und denkt bei all der Faselei, die Enzensberger nun nicht mehr unwillig kommentieren kann, dass ein wenig Eskapismus doch nie schaden kann.
Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.

(jk)