Patientenakte: "Toxische elektronische Zugriffe auf die Identität des Menschen"

Die E-Patientenakte gleicht dem chinesischen Sozialkreditsystem, warnt ein Psychotherapeut. Es entstünden digitale Doppelgänger mit konstruierten Identitäten.

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(Bild: triocean/Shutterstock.com)

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Mit der elektronischen Patientenakte (ePA) droht nicht nur das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verloren zu gehen. Vielmehr droht der Verlust der Kontrolle über die eigene Identität durch die schier beliebige Konstruktion digitaler Doppelgänger. Dieses dystopische Szenario malte der Tübinger Psychoanalytiker Reinhard Plassmann am Samstag auf dem 10. Kongress der Freien Ärzteschaft (FA) in Berlin aus. Der Verein setzt sich für die ärztliche Unabhängigkeit ein und kritisiert seit Langem die Kommerzialisierung der Medizin unter dem Primat der Rendite.

Schon wenn ein Studierender zur psychotherapeutischen Beratung einer Universität gehe, hinterlasse er eine Datenspur, die sich durchs ganze Leben ziehe, veranschaulichte Plassmann seine Warnung. Durch das "monströse Projekt" der ePA kämen nun automatische digitale "Formen der Datenschnüffelei" hinzu. Das "gigantische Datenkonvolut äußerst persönlicher und medizinischer Informationen" lade gerade dazu ein, es mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu durchkämmen und persönliche Profile zu erstellen: "Das heißt, sich der Identität des Bürgers bemächtigen zu können."

Systeme zur Identitätsfeststellung beschrieben zentrale Merkmale der Persönlichkeit nicht nur, sondern definierten sie auch, führte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus. Schon mit einem Personalausweis, in dem Daten wie Name, Geburtsdatum, Körpermerkmale sowie biometrische Informationen wie Foto und Fingerabdruck und künftig wohl auch DNA-Angaben gespeichert würden, entstehe ein digitaler Doppelgänger im System. Dieser werde verarbeitet und beurteilt, also etwa für die Entscheidung herangezogen, wer durch eine Grenze gelassen werde.

Reinhard Plassmann

(Bild: Stefan Krempl / heise online)

Bereits das Heranziehen solcher invariablen Informationen könne massive Auswirkungen haben, wenn etwa ein Name falsch geschrieben oder der Geburtsort verwechselt werde, erklärte Plassmann. Betroffene könnten verhaftet, als "Niemand" behandelt oder sogar in Guantanamo landen. Würde etwa im Ausweis oder in anderen Identitätssystemen etwa die Zugehörigkeit zu politischen Parteien, die Anzahl begangener Ordnungswidrigkeiten oder der ökonomische Status erfasst, könnte beispielsweise eine Regierung diese Parameter verknüpfen und selbst variabel konstruieren, wer und was jemand sei.

Heutzutage bedeutet dies dem Forscher zufolge: Ein Algorithmus setze nach eigenem Interesse Informationsstücke zusammen und bastle so schier beliebig Identitäten. Bei einer Häufung unerwünschter sozialer Eigenschaften könnten die Betroffenen dann bestimmten negativen Konsequenzen ausgesetzt werden. Die ePA habe genau solche Eigenschaften, aber auch Chinas Sozialkreditsystem auf Basis von in Echtzeit gesammelten Informationen: Wer hier zehn falsche Likes verteile, habe seine 1000 Startpunkte schon verloren.

Die ePA ermögliche nach dieser Lesart "toxische elektronische Zugriffe auf die Identität des Menschen", monierte Plassmann. Von der Geburt bis zum Tode wanderten dort "alle medizinischen Daten in einen gigantisch anschwellenden Satz". Das eigentlich erforderliche sorgfältige Ordnen, Systematisieren und Einpflegen der Berichte, Gutachten und Anamnesen sei gar nicht machbar. Gelange ein psychosomatischer Entlassungsbericht eines "Felix Meier" in die Akte eines Namensvetters, liege die Last der Korrektur ausschließlich beim Letzteren. Im Handumdrehen wandere ein solches Dokument in andere Systeme wie die Praxissoftware von Ärzten oder Datenbanken des Staatsanwalts und des Arbeitgebers weiter.

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"Unvermeidbare Datenfehler haben in der Medizin katastrophale Folgen", gab der Wissenschaftler zu bedenken. Die ihm versprochene letzte, fein granulierte Kontrolle über den ePA-Bestand könne der Bürger schon angesichts des damit verknüpften Arbeitsaufwands und der für Laien schwer verständlichen Thematik gar nicht ausüben. Er dürfte so statt zu einem Opt-out zu pauschalen Zustimmungen für eine Ablage und Nutzung von Inhalten gedrängt werden. Der Kreis der Zugriffsberechtigten sei dann sehr groß, reiche hin etwa bis zu einem Klinikmitarbeiter, der sich über erfolgte psychotherapeutische Behandlungen informieren könnte.