Vor 30 Jahren: Mit Visicalc bricht eine neue Ära an

Heute vor 30 Jahren wurde die erste Version der Tabellenkalkulation Visicalc ausgeliefert. Mit Visicalc kam nach den Textverarbeitungsprogrammen die zweite Software-Gattung für den PC auf den Markt, die Anwender ohne Programmierkenntnisse zum Umgang mit solch einem Computer ermutigten - heute würde man Visicalc wohl als Killerapplikation bezeichnen.

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Von
  • Detlef Borchers

Heute vor 30 Jahren, am 17. Oktober 1979 wurde die erste Version der Tabellenkalkulation Visicalc ausgeliefert, Version 1.37 für den Apple ][. Mit Visicalc kam nach den Textverarbeitungsprogrammen die zweite Software-Gattung für Personal Computer auf den Markt, die Menschen ohne Programmierkenntnisse zum Umgang mit solch einem Computer ermutigten. Außerdem begründete Visicalc den Mythos von der Killeranwendung

Die Tabellenkalkulation Visicalc oder Calculedger, wie die Software ursprünglich hieß, basierte auf einer Idee des Programmierers Dan Bricklin. Bricklin hatte Anfang der 70er-Jahre als Programmierer am Massachusetts Institute of Technology am Project MAC gearbeitet und ging danach als Programmierer zu Digital Equipment (DEC) in die Gruppe, die 1973 das Redaktionssystem Typeset-10 entwickelte. Für den Typeset-10 programmierte Bricklin einen Konverter, der direkt die per Telex verschickten Typoskripte der Tonbänder der Watergate-Affäre in Zeitungssatz verwandelte. Später programmierte er die Textverarbeitung WPS-8, mit der Redakteure ihre Texte selber am Computer tippen sollten. "Mit der Zeitungsarbeit lernte ich bei DEC, wie normale Leute denken, also die, die eine Maschine unter großem Stress bedienen. Die keine Geeks sind und uns Programmierer für lustige Freaks halten."

Als DEC die Produktion verlagerte, blieb Bricklin in Massachusetts und schrieb sich an der Harvard Business School ein: "Als DEC zumachte, war ich umgeben von Programmierern, die um die 50 Jahre alt waren und partout keinen Job mehr fanden. So wollte ich nicht enden." An der Business School ließ Bricklin alle Schulaufgaben von einem DEC-Computer berechnen, doch ärgerte er sich, für jede Aufgabe ein Basic-Programm zu entwickeln. Der erste Entwurf seines Calculedgers war ein programmierbarer Taschenrechner im Stil des TI-59, erweitert um einen OCR-Leser für die Zahleneingabe, das Ganze auf einem Rollerball montiert, der die mathematischen Eingaben "abtasten" sollte, erweitert um einen Bildschirm, der in einem Helm am Kopf getragen wurde. Bricklin stellte seine Idee den Professoren vor, die ihn in Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen unterrichteten. Sie zeigten ihm Bilder von Produktionsplanungstafeln, in denen für Stückzahlen, Arbeitskosten, Liefereingänge jeweils Reihen und Zellen vorgesehen waren, die sich in Abhängigkeiten von Einträgen veränderten.

Visicalc-Referenzkarte für den Apple II

(Bild: Dan Bricklin)

Nach einem Riesendiagramm, gezeichnet auf Kontoführungspapier, setzte sich Bricklin hin und schrieb: das Benutzerhandbuch über ein "magisches Papier" aus Reihen und Spalten, in dem alle Zellen dieses Geflechtes rechnen können. Sein "Papier" funktioniert heute noch, wie dieser Download zeigt, komplett mit einem kondensierten Benutzerhandbuch, der Referenzkarte, einer der ersten ihrer Art.

Weil Bricklin in Harvard ernsthaft studierte, musste ein anderer nach seinen Skizzen das Programm auf einem angemieteten Time-Sharing-System in den billigen Nachtstunden schreiben: Um 15:00 Uhr stand Bob Frankston auf, diskutierte die Entwicklung mit Bricklin bis in die Abendstunden, um dann nach einen Essen bis in den Morgen zu programmieren, wenn die Firmen wieder das Time-Sharing-System benutzen wollten und der Mietpreis drastisch anzog. Auf dem System selbst entstanden parallel eine Version für den Zilog Z80 und den Motorola 6502-Prozessor mit dem Apple ][ als Zielrechner. Dazu gab es einen Notations-Code, der den Z80-Code in zwei Varianten für Intels 8088 und 8086 übersetzte: die Zweimannfirma Software Arts (ursprünglich wollte man sich Kentucky Fried Fish nennen) wusste, dass ein IBM-PC erscheinen sollte, aber nicht, welchen Prozessor IBM einsetzen würde.

Die Distribution des Programms sollte ein "erfahrener Manager" übernehmen, der gerade die Business School in Harvard hinter sich gebracht hatte. Daniel Fylstra hatte wie Bricklin als Programmierer am MIT gearbeitet, war aber dann zur europäischen Weltraumbehörde ESA gewechselt und versauerte dort. Fylstra, der zum Gründungsteam der Zeitschrift Byte gehörte, entschloss sich zum Business-Studium, nachdem er ein Schach-Programm von Peter Jennings getestet hatte. Für Jennings Microchess gründete er die Firma Personal Software.

Fylstra nahm das nunmehr Visicalc genannte Programm von Bricklin und Frankston zur Distribution an, unter der Bedingung, dass die Lieferanten sich verpflichten, Versionen "für alle zukünftigen Prozessoren" zu entwickeln. Ein Apple ][, den Fylstar übrig hatte, sollte als Referenzsystem dienen. Als die erste stabile Beta-Version fertig war, zeigte Fylstra die Tabellenkalkulation dem damaligen Apple-Vorsitzenden Mike Markkula. Der fand Visicalc langweilig. Derweil schrieb Fylstras Trauzeuge Carl Helmer in der Byte eine glühende Rezension, die von Berechnungen des Sinus und Cosinus von Zellenwerten schwärmte, die Visicalc aber nicht beherrschte: die Vapor-Versprechen der Computermagazine begannen mit Visicalc. "Weil Helmers in seinem Artikel Dinge schrieb, die wir noch gar nicht implementiert hatten, mussten wir loslegen. Ich habe den Sommer 1979 damit verschwendet, dieses Zeug zu implementieren", erinnerte sich Dan Bricklin später.

Noch im Oktober konnte Personal Software 1293 Lizenzen für 100 US-Dollar verkaufen – der Preis war von Fylstra nach einer Umfrage unter Händlern festgesetzt worden. Bis zum Januar 1980 stiegen die Absatzzahlen, danach brachen sie völlig ein. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1980 startete die Verkaufsrakete, nachdem Fylstra den Preis auf 250 Dollar erhöht hatte: 12.000 Lizenzen pro Monat wurden verkauft. Gegen Ende 1983 wurde die Lizenz Nummer 700.000 gefeiert: Die Programmierfirma Software Arts hatte da 130 Angestellte und einen Umsatz von 12 Millionen, der Distributor Personal Software kam auf 235 Angestellte und 60 Millionen Umsatz. Ein Drittel der Visicalc-Einnahmen wurde sofort in die Magazin-Werbung gesteckt, um Firmen wie Micropro oder Ashton-Tate zu schlagen: Visicalc, Wordstar und dBase II waren mit großem Abstand die Kassenschlager bis zum Jahre 1984. Personal Software nannte sich in Visicorp (später Paladin) um, gründete den Buchverlag Visipress und die erste eigenständige Support-Firma für Software, Visicare.

Doch die Erfolgsgeschichte dauerte nicht lange, Visicalc wurde von Sorcims Supercalc im Marktsegment der CP/M-Computer und von Lotus 1-2-3 im Marktsegment des IBM-PC bedrängt. Mitch Kapor, der zuvor für Visicorp die Programme Visitrend und Visiplot entwickelte, hatte sich bei der Entwicklung von 1-2-3 großzügig vom Vorbild Visicalc inspirieren lassen. Doch damit nicht genug: Visicorp verklagte Software Arts. Die Begründung, dass die Programmierer nicht schnell genug an der Version für den IBM-PC arbeiteten, war vorgeschoben. Visicorp wollte vor allem verhindern, dass Software Arts im PC-Sektor wie bei den anderen Visicalc-Versionen 50 Prozent der Einnahmen kassierte. Der langwierige Prozess endete damit, dass sich die Partner trennten, Software Arts von Lotus aufgekauft und Visicalc dort still beerdigt wurde. Dan Bricklin und Bob Frankston wurden mit ihrem Programm zwar reich, doch eben keine Multimillionäre. Dazu hätten sie das magische Konzept der rechnenden Reihen und Spalten patentieren lassen müssen, was nicht geschah. So konnten Lotus mit 1-2-3 und Microsoft mit Multiplan das Erbe antreten.

Im Interview mit dem Kolumnisten Bob Cringely für NerdTV zieht der "Erfinder" Dan Bricklin ein bemerkenswertes Resümee: "Wenn man zurückschaut und sieht, wie erfolgreich eine ganze Reihe von Leuten gewesen sind, dann ist es etwas traurig, dass wir nicht so erfolgreich waren. Aber wir sind echte Kinder der 60er und was wollten die, was wollten wir? Wir wollten die Welt verbessern und wir wollten unser Zeichen setzen, wie die Welt verbessert werden kann. Das haben wir getan. Nach diesen, unseren Maßstäben gemessen, waren wir sehr erfolgreich." (pmz)