Bundesgerichtshof stärkt Pressefreiheit und Medienarchive

Laut BGH können Online-Medien nicht generell verpflichtet werden, in ihren Archiven abgelegte Berichte über ein Kapitalverbrechen mit namentlicher Nennung der Verurteilten zu löschen, wenn es sich bei der Tat um ein "zeitgeschichtliches Ereignis" handelt und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das allgemeine Persönlichkeitsrecht überlagert.

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Von
  • Peter-Michael Ziegler

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit einem wegweisenden Urteil am Dienstag die Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland gestärkt. Online-Medien können danach nicht generell verpflichtet werden, in ihren Archiven abgelegte Berichte über ein Kapitalverbrechen mit namentlicher Nennung der Verurteilten zu löschen, wenn es sich bei der Tat um ein "zeitgeschichtliches Ereignis" handelt und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das allgemeine Persönlichkeitsrecht überlagert.

Im konkreten Fall hatten zwei im Jahr 1993 wegen Mordes an dem Schauspieler Walter Sedlmayr zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Brüder vom Deutschlandradio verlangt, dass die Mitschrift eines alten Rundfunkbeitrages nicht mehr online zugänglich gemacht wird, in dem ihre Vor- und Zunamen genannt werden. Nachdem die Klage in den Vorinstanzen zunächst Erfolg hatte, hob der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes die früher ergangenen Urteile jetzt auf.

Zwar liege in dem Bereithalten der die Kläger identifizierenden Meldung zum Abruf im Internet ein Eingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht vor, erklären die Richter zur Begründung, der Eingriff sei aber dennoch nicht rechtswidrig, weil im Streitfall das Schutzinteresse der Kläger hinter dem von der Beklagten (das Deutschlandradio, die Red.) verfolgten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung "zurückzutreten" habe.

Die beanstandete, wahrheitsgemäße Meldung beeinträchtige das Persönlichkeitsrecht der Kläger einschließlich ihres Resozialisierungsinteresses unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht in erheblicher Weise, heißt es weiter. Sie sei insbesondere nicht geeignet, die Kläger "ewig an den Pranger" zu stellen oder in einer Weise "an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren", die sie als Straftäter (wieder) neu stigmatisieren könnte.

Im Übrigen, führen die Richter weiter aus, bestehe ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit nicht nur an Informationen über das aktuelle Zeitgeschehen, sondern auch daran, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse zu recherchieren. Das von den Klägern verlangte Verbot einer Zugänglichmachung der Mitschrift eines alten Rundfunkbeitrages hätte einen "abschreckenden Effekt auf den Gebrauch der Meinungs- und Medienfreiheit, der den freien Informations- und Kommunikationsprozess einschnüren würde".

Der VI. Zivilsenat weist zudem darauf hin, dass man vom Deutschlandradio nicht verlangen könne, sämtliche archivierten Hörfunkbeiträge, die zum Zeitpunkt der Einstellung zulässig waren, immer wieder neu auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, da sonst die "Meinungs- und Medienfreiheit in unzulässiger Weise eingeschränkt" werde. Es bestehe die Gefahr, dass dann ganz von einer der Öffentlichkeit zugänglichen Archivierung abgesehen würde.

Die beiden Männer, die inzwischen wieder auf freiem Fuß sind und bis heute ihre Unschuld beteuern, hatten sich im Jahr 2008 mit einer ähnlichen Klage gegen den Spiegel-Verlag durchsetzen können. Ein weiteres Verfahren gegen ein österreichisches Unternehmen, das ebenfalls einen Artikel in einem Online-Archiv vorgehalten hatte, in dem unter voller Namensnennung über eine Verfassungsbeschwerde gegen ihre Verurteilung berichtet wurde, reichte der Bundesgerichtshof zuletzt an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weiter.

Dieser Fall werfe eine Reihe komplizierter europarechtlicher Fragen auf, erklärten die Richter Anfang November. So solle der EuGH zunächst "die internationale Zuständigkeit der Gerichte für Unterlassungsklagen gegen Internet-Veröffentlichungen von Anbietern klären, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind". In den USA ist zudem ein Rechtsstreit mit der Wikimedia Foundation anhängig, die aufgefordert wurde, den Namen eines der Verurteilten zu entfernen und alle Details über ihn zu anonymisieren. (pmz)