Unzeitgemäß geheim

Neben Klimaschutz und Gesundheitsreform wartet ein weiteres heißes Eisen auf Barack Obama: das Chemikalienrecht. Denn in den USA ist die Regulierung so schwach, dass wegen Geschäftsgeheimnissen zu fast 17.000 Stoffen keine Informationen vorliegen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Niels Boeing

Neben Klimaschutz und Gesundheitsreform wartet ein weiteres heißes Eisen auf Barack Obama: das Chemikalienrecht. Denn in den USA ist die Regulierung so schwach, dass wegen Geschäftsgeheimnissen zu fast 17.000 Stoffen keine Informationen vorliegen.

Bei der Aufregung um die Zukunft der Klimapolitik kann das eine oder andere Umweltproblem leicht aus dem Blick geraten. Gefährliche Chemikalien zum Beispiel: Vor gut einem Monat jährte sich die Katastrophe im indischen Bhopal zum 25. Mal. 25 Jahre – das klingt weit weg. Ein Artikel der Washington Post von vor zwei Tagen zeigt jedoch, dass ein sicherer Umgang mit Chemikalien noch lange nicht in trockenen Tüchern ist.

Laut der amerikanischen Umweltbehörde EPA seien von den 84.000 in den USA erhältlichen Chemikalien immerhin 20 Prozent als "top secret" eingestuft. Zu knapp 17.000 Stoffen gibt es also im Land der unbegrenzten Möglichkeiten keinerlei Informationen. Der Grund: Wettbewerbsschutz. Selbst bei der EPA, so die Washington Post, würden von Fall zu Fall nur einzelne Mitarbeiter Details kennen. Die dürfen sie aber laut Gesetzeslage nicht einmal an Kollegen weitergeben.

Dabei handelt es sich nicht nur um exotische Stoffe, die in geringen Mengen produziert werden. Von 151 werden jährlich über eine Million Tonnen produziert, und zehn werden laut EPA explizit in Kinderprodukten verwendet.

An dieser Situation ändert auch das amerikanische Chemikalienrecht, der 1976 verabschiedete TSCA (Toxic Substances Control Act), nichts. Denn anders als das neue europäische Chemikalienrecht REACH , das 2007 in Kraft trat, verpflichtet es die Hersteller zu fast nichts. Die müssen die EPA lediglich 30 Tage vorher in Kenntnis setzen, dass sie einen neuen Stoff produzieren werden, und dann mitteilen, dass sie mit der Produktion begonnen haben. Die einzige weitere Verpflichtung besteht darin, der Behörde alle fünf Jahre Bericht zu erstatten, ob sich Produktionsverfahren, Anwendungen und Tonnage (bei mehr als 11,3 Tonnen) geändert haben oder ob ein "substantielles Risiko" entdeckt wurde.

Im ersten Quartal 2009 etwa gab es 65 Benachrichtigungen über substantielle Risiken. Die Hälfte der betroffenen Stoffe unterliegt aber der Geheimhaltung, so dass selbst die EPA nicht weiß, worin das Risiko bestehen könnte. Den amerikanischen Verbrauchern – und solchen in anderen Ländern außerhalb der EU, wo REACH nicht gilt – bleibt nur das Vertrauen darauf, dass die Hersteller wissen, was sie tun.

Der US-Rechnungshof GAO hat den Unterschied zwischen TSCA und REACH in einem Vergleich 2006 auf den Punkt gebracht: In den USA liegt die Beweislast für Risiken von Stoffen bei der EPA, in der EU liegt sie bei den Herstellern (und Importeuren). 1989 scheiterte die EPA tatsächlich mit der Regulierung von Asbest, weil ein Gericht deren Beweise für nicht ausreichend erachtete.

Auch wenn REACH noch einiger Korrekturen, zum Beispiel bei Nanomaterialien, bedarf und erst 2018 vollständig implementiert ist, ist es doch der richtige Weg. Denn es wird höchste Zeit, dass wir ein genaueres Bild unserer globalen "Technosphäre" bekommen, die über etliche Jahrzehnte immer komplexer und undurchschaubarer geworden ist. Dazu gehört gerade auch, welche Stoffe in die Welt gesetzt worden sind und wie sie sich auswirken. Aber das will Industrie und Chemikalienhändlern immer noch nicht recht in den Kopf, wie etwa vor einigen Tagen veröffentlichte Umfrageergebnisse der Handelskammer Hamburg zeigen.

Politisch ist das Thema in der EU glücklicherweise durch. In den USA hingegen dürfte es die nächste große Schlammschlacht in Gang setzen, denn Präsident Obama hat bereits angekündigt, Chemikalien stärker zu regulieren. China wiederum hat im Mai 2009 Änderungen an seinem sechs Jahre alten Chemikalienrecht beschlossen, die im Oktober dieses Jahres in Kraft treten werden und zumindest in eine ähnliche Richtung wie REACH gehen. Vielleicht ist bis 2020 also immerhin das Problem mit riskanten Chemikalien gelöst. (nbo)