4W

Was war. Was wird.

Ja, es gibt sie noch die gestelzten Dinge. Die Dinge, die auratisch um die Ecke schlenzen und Hal Faber erschrecken. Buh! Da greift man doch lieber zur Philosophie und wird dialektisch.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 28 Kommentare lesen
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Es schneeweht kräftig in der norddeutschen Tiefebene bis hinunter ins Hessische. Deutschland, bleiche kalte Mutter. Überall werden Flüge abgesagt, nur dieser kleine Tiefflug mit Rückblick auf die Woche kann ungefährdet abheben, allen Untergangs-Frohlockungen zum Trotz. Händeringend habe ich das passende Snow Manifest im Internet gesucht, etwa bei den "Fingerabschneidern" von Hennes & Mauritz. Weit und breit jedoch keine Spur von twitternden Schneeflocken, Chatrooms für Schneemänner und crowdsourcenden Schneebällen, die sich zu einer Schlacht treffen. Stattdessen fand sich nur ein schwachsinniges Slow Media Manifest, das daherkommt, als sei es auf dem Einwickelpapier von Manufactum gedruckt worden: "Slow Media sind auratisch". Ja, es gibt sie noch, die gestelzten Dinge. Soll man sich wirklich über Schleichmedien freuen, die (These 2) "in fokussierter Wachheit mit Genuss konsumiert" werden? Dann doch lieber "zerstreut schlafen" und den Tam Tam der "Prosumenten" in Blogdorf verklingen lassen. Wie überhaupt nach dem Internet-Manifest der blondierten Blogger der langsame Medienerlass dieser Melchiten seltsam aufgeblasen ist. Wer erinnert sich da nicht an sein erstes Semester Informatik und die Definition der Null Theory? If explanation length = raw data length, genau.

*** Während die Tastatur launisch klappert am Tag, an dem der König von Deutschland Geburtstag hätte, darf laut mitgesungen werden: "Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei, du warst hier und wir wären frei und die Mooooorgensonne schien!" Natürlich ist das ein Traum, denn auf dem Netbook klappert es überhaupt nicht, es tappert sich höchstens dahin, bis der schwarze Harry den Wagen vorfährt und sie meine kalten starren Finger wegbrechen. Still und starr steht der Rechner auf dem Tisch, dem Freund jedes Philosophen. Mit der Frage nach der Wirklichkeit des Tisches beginnt bekanntlich jede Philosophie, während die Informatik erst dann einsetzt, wenn 5 Philosophen an einem Tisch sitzen und auch noch hungrig sind und sich alle Spaghetti bestellt haben. Wir sehen schnell, wie speziell so eine Wissenschaft ist.

*** Die kleine philosophische Vorrede führt uns schleifenlos zur Frage "Wie verändern Internet und vernetzte Computer die Art, wie wir denken?". Gestellt hat diese Frage John Brockman, der C.W. Ceram unter den Digerati. 131 Wissenschaftler antworteten. Viele Antworten sind von dem Arbeitstisch geprägt, an dem die Wissenschaft getrieben wird. Aus Deutschland antworteten Ernst Pöppel und Gerd Gigerenzer, aus Österreich Anton Zeilinger, aus der Schweiz der Kunstkurator Hans-Ulrich Obrist. Und irgendwie aus der transatlantischen Byteburg war Kai Krause zugeschaltet, mit der genialen Einsicht, dass Brockmans Frage im Spam-Folder aufgeschlagen ist. Da gehört sie auch hin, weil sie zu schlicht ist, im Stil von "Bitte lesen Sie mein Freund".

*** Besonders sympathisch sind mir daher die Antworten der Psychologen, wahrscheinlich weil sie nicht den Unsinn lesen müssen, den die zeitgenössischen Internet-Berater so von sich geben. Man lese Pinkers kluge Einsicht Not at all und die Bewunderung der kollektiven Weisheit durch Geoffrey Miller. Dieser Text hat es sogar ins Deutsche geschafft, weil die FAZ sich Brockman öffnete: Wikipedia ist mein verlängertes Gedächtnis – mit Bezug auf die US-Ausgabe des Gedächtnisses. "Wir müssen unsere intellektuelle und ästhetische Überheblichkeit ablegen." Bescheidenheit ist angesagt, aber doch nicht in Deutschland, wo Internet-Strategie-Berater Fleißpünktchen unter ihren Followern sammeln und meckern, weil einer von den 131 es nicht in die FAZ geschafft hat. Selten ist die kleingeistige Papierfixiertheit der deutschen "Berater"-Szene so klar zum Ausdruck gekommen.

*** Natürlich hat das Internet unser Denken verändert. Na und? Der Kopf ist bekanntlich rund, damit das Denken die Richtung ändern kann, wusste schon Francis Picabia. Wer will, kann sich an die Tische der Philosophen setzen, wo seit Jahrhunderten die Frage auf dem Speiseplan steht, wie der Mensch Werkzeuge benutzt und wie die Werkzeuge den Menschen formen und wie der Mensch die Werkzeuge. Viel interessanter als die philosophische Sonntagsfrage von John Brockman ist die Einleitung, die unter www.faz.net/digitaldenken zu finden ist. Frank "Payback" Schirrmacher erwähnt in ihr ausdrücklich die Pre-Crime-Analytik, "wer plant was, wo, mit welchen Mitteln", komplett mit einem Werbe-Link zu einem Anbieter für Katapher-Kriminalistik. Einen Tag vor der großen Brockman-Präsentation veröffentlichte das nämliche Blatt im Feuilleton den Text Vorwärts in die zweite Reihe, der die Leser auffordert, zwischen Pre-Crime-Analytik und den bald zu testenden Nacktscannern zu wählen. Komplett mit einem eindeutigen Bekenntnis zum Einsatz von Nacktscannern gegenüber der Pre-Crime-Analytik: "Die Maschine verteilt, so sie denn funktioniert, die sozialen Kosten des Kampfs gegen den Terrorismus gleicher: in Form von Wartezeiten für alle, teureren Flügen für alle, Eingriffe in die Intimsphäre für alle." Wir sitzen alle an einem Tisch, nackt und vor dem großen Rechner.

Was wird.

Wie gut trifft es sich da, wenn dann der Europäische Polizeikongress mit einer Begleitausstellung wirbt, in der auch Nacktscanner gezeigt werden und Pressefotografen auf die Möglichkeit hinweist, "Lara-Croft-Lookalikes" beim Durchschreiten der Systeme fotografieren zu können. Die verdruckste Geilheit verklemmter Pornobrillen-Träger passt bestens zum allgemeinen Sicherheits-Geschwurbel, in der jeder Flughafen-Beamte der Bundespolizei ein Clark Kent mit Röntgenblick werden kann. Die Argumentation, dass wir datentechnisch längst entblößt sind, vor allem dank Flugdatenübermittlung, wenn wir in die USA fliegen, hat große Löcher. Der Nacktscanner ist längst das Vehikel zur Prüfung der nackten Gesinnung. Ein Kommentar der "tageszeitung" bringt es auf den Punkt. Da heißt es mitleidig: "Die Aufregung um den Scanner trägt daher die Züge einer Ersatzhandlung, geführt von Leuten, die noch vor dem Netzzeitalter sozialisiert sind und das Wörtchen 'nackt' für anstößig halten." Zu komisch, dass der Satz vor diesem verwegenen Argument so lautet: "Aufs Fliegen können die meisten Menschen notfalls verzichten, auf die Nutzung des Internets nicht." Ob das Sanatorium Schirrmacher dem armen Journalisten helfen kann?

Sein Geburtstag ist nicht genau datiert, doch irgendwann in diesen grauen Januartagen zwischen dem 9.1. und 17.1. vor 350 Jahren kam Daniel Defoe auf dieser Welt an. Die relevanzgestählte deutsche Wikipedia bespricht den Kaufmann, Essayisten und Schriftsteller, nennt aber nicht die Arbeit, mit der sich Defoe in die Ruhmeshalle des Qualitätsjournalismus verewigte. Der Kämpfer für Frauenrechte, der zeitweilig für 12 Zeitungen gleichzeitig als Journalist arbeitete, gehört zu den Verfechtern der Pressefreiheit. Er gilt als der Erfinder des Kommentars und ist damit Urururururururopa dieser kleinen Wochenschau. Die Freiheit des Journalisten, bei aller Berichterei auch eine eigene Meinung zu haben und sie getrennt von einer Nachricht dem Publikum zu übermitteln, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Internet ist eben das, ein Tanzplatz dieser journalistischen Nettigkeit. Und wieder einmal schließe ich mit dem größten aller bisher gelebten und gestorbenen Kommentatoren: "Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: Sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören will."

Ich schließe? Aber Hallo, nein, so einfach geht das nicht! Über viele Jahre hat diese kleine Wochenschau aus der norddeutschen Tiefebene das Treiben der Bobos betrachtet, der digital Größenwahnsinnigen, deren Träume in der Dotcom-Blase platzten oder die ihre StudiVZ genannten Datenalpträume zum Führergeburtstag erfolgreich an einen Verlag verscherbelten. Nun wenden sich die Zeiten und die iHobos kommen. Sie sind die digitalen Hobos, rastlos auf der Suche, die ihresgleichen kurz nur "Bo" rufen oder #untergang twittern. Die neuen Gesundbeter des Internet sind leicht zu erkennen, weil sie erst einmal heftig "das Internet" an eine Tür nageln und bejammern, was das Internet mit unseren Hirnen alles so anstellt. Diese iHobos wollen kein Spielzeug sein, aber trotzdem visionär wie immer die Zukunft durchblicken. Diese iHobos werden uns dieses Jahr beschäftigen, als eine kleine, aber meinungsstarke Minderheit. Wer wird ihr Martin Luther sein, bereit, all das unverständliche Software-Latein des Internets in handliche, praktikable Anweisungen zu übersetzen? Sie wollen Jesus rufen, aber heraus kommt Jobs, Steve Jobs?

Wie sang noch der König von Deutschland?

"Der Traum ist aus! Der Traum ist         AUS.
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird."

Wie verändert die Wirklichkeit die Art, wie wir denken? (jk)