Die Wahrheitsmaschine

Ein neuer Web 2.0-Dienst erlaubt es, sich von wildfremden Menschen Fragen stellen zu lassen. Ob daraus ein Erkenntnisgewinn entsteht oder narzisstische Selbstbespiegelung, entscheiden allein die Nutzer.

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Ein neuer Web 2.0-Dienst erlaubt es, sich von wildfremden Menschen Fragen stellen zu lassen. Ob daraus ein Erkenntnisgewinn entsteht oder narzisstische Selbstbespiegelung, entscheiden allein die Nutzer.

Es gibt Internet-Experten, die werfen bereits dem Kommunikationsdienst Twitter vor, die im Social Media-Zeitalter sowieso schon stark im Aufschwung befindliche Selbstliebe auf die Spitze zu treiben. Schließlich erlaube das Angebot es seinen Benutzern, der Welt nahezu sekündlich mitzuteilen, was sie gerade Wichtiges oder Unwichtiges tun – egal ob die Menschheit das nun hören möchte oder nicht. Zyniker würden sagen: User sprechen bei Twitter eine potenziell eingebildete Zielgruppe an, positionieren sich den Tag über selbst im besten Licht und fühlen sich damit wichtig. Tatsächlich entwickelt sich die Selbstbespiegelung, die bei Twitter möglich ist, bei manchen Nutzern zu einer Art Droge – wie altgediente Twitter-Fans auch gerne einräumen, wenn man etwas nachbohrt.

Dass es noch ein Stückchen narzisstischer geht, zeigt nun ein neues Web 2.0-Angebot aus dem Dunstkreis von Twitter. Es hört auf den Namen Formspring.me und erlaubt es seinen Benutzern, sich von wildfremden Menschen "interviewen" zu lassen. Das Motto ist so einfach wie potenziell nervenaufreibend: "Frag' mich alles" ("Ask me anything"). Entsprechende Links tauchen inzwischen regelmäßig auch in den Blogs und Twitter-Feeds mehr oder minder bekannter deutscher Web 2.0-Protagonisten auf. Formspring.me verbreitet sich viral: Mit zwei oder drei Mausklicks lässt sich der Dienst in das soziale Netzwerk Facebook integrieren, für fast jede andere Plattform existiert ein eigenes Widget zum Einbinden. Dann noch ein paar Angaben zur Person gemacht und ein Design ausgewählt – fertig ist die Online-Fragestunde.

Unter "formspring.me/nutzername" kann es dann auch schon losgehen: Dort sieht der Besucher ein Eingabefeld mit dem bereits erwähnten Mantra sowie eventuell beantwortete Fragen des Users. Der wird über Neuzugänge in einem eigenen Postkasten informiert und kann, so menschenfreundlich ist Formspring.me dann doch, selbst entscheiden, ob er antworten soll, die Frage einfach löscht oder sie als Spam bewertet. Ist eine Anbindung zu Facebook, Twitter und Co. integriert, wird der Dienst zum Selbstläufer: Nicht nur wird die Frage-Adresse publiziert, sondern automatisch auch bereits beantwortete Inquisitionssitzungen.

Formspring.me besitzt, ähnlich wie Twitter, einen nicht zu unterschätzenden Suchtfaktor. Dieser rührt sicherlich auch daher, dass der User das Gefühl hat, die Kontrolle über den Dienst in der Hand zu behalten: Schließlich kann er selbst bestimmen, welche Fragen er beantworten will und welche er in die Tonne tritt. Das narzisstische Element ist dabei nicht klein: Man bekommt Fragen von anderen Menschen gestellt und kann "die besten" auswählen, um sich in einem besonders guten Licht darzustellen.

Doch Obacht: Fragende können auch zu anonymen Soziopathen werden, die den Formspring.me-Nutzer mit Hassbotschaften bombardieren. Kein Wunder, dass das stets mit spitzer Feder arbeitende Silicon-Valley-Klatschblog "Valleywag" den Dienst, der seine Heimat im beschaulichen Indiana hat, als "soziopathisches Crack-Kokain des Oversharing" bezeichnet. Oversharing ist ein Begriff, den das Web 2.0-Zeitalter eingeführt hat: Er steht für Menschen, die viel mehr Informationen mit dem Rest des Planeten teilen, als notwendig wäre. "Formspring.me ist die Internet-Version von Wahrheit oder Pflicht. Gleichzeitig kann man darüber irgendjemanden emotional total fertigmachen. Das Hoch ist wie Crack."

Formspring.me hat bereits einige Nachahmer gefunden. So kann man sich auf der Seite failin.gs ("Mängel") anonym von anderen Nutzern erklären lassen, wo die persönlichen Schwächen liegen – psychologisch ist das potenziell noch gefährlicher als der Interview-Dienst. Tumblr, ein Anbieter so genannter Tumblelogs, also Weblogs im Kleinformat, hat zudem eine neuen Fragefunktion namens "Ask Me About..." in seinen Dienst eingebaut, die sich in wenigen Sekunden integrieren lässt. Hier geht es allerdings normalerweise um spezifische Fragen, deren Thema der User vorgeben kann. Kleine kommunikative Traumreisen (oder Horrortrips) wie auf Formspring.me sind da eher unwahrscheinlich. (bsc)