Abenteuer mit Fangnetz

Inhaltsverzeichnis

Mattighofen (Österreich), 4. März 2013 – Reiseenduros sind en vogue und nichts verkauft sich auf dem Motorradmarkt zur Zeit besser. Das weiß auch KTM und hat keinen geringeren Anspruch, als mit der neuen 1190 Adventure das beste Motorrad seiner Klasse zu bauen.

Es ist passiert. KTM verbaut seine erste Traktionskontrolle. Ausgerechnet die Marke, die ihren Erfolg vor allem dem kompromisslos sportlichen Image zu verdanken hat. Wird hier nicht der hauseigene Slogan „Ready to race“ totgeschlagen? Gerät man da nicht in den Verdacht des Weicheitums, wenn man die Kontrolle über das Fahrzeug an die Elektronik abgibt? Gemach, die Fans können aufatmen! Traktionskontrollen werden schließlich auch im MotoGP eingesetzt. Wer also der neuen 1190 Adventure Kompromissbereitschaft unterstellt, hat keine Ahnung. In Wahrheit hat KTM eine extreme Reiseenduro auf die Räder gestellt, die fast alles kann.

Traktionskontrolliert „ready to race“

Natürlich hat man in Mattighofen nach München geschielt zum ewigen Klassenprimus BMW R 1200 GS. Dazu mussten die KTM-Ingenieure ganz tief in die Technikkiste greifen. Das Ergebnis beeindruckt: 150 PS aus einem 1195 cm3 großen V2. Gut, im Sportmodell RC8 R leistet das Triebwerk satte 175 PS (als nicht-straßenzugelassene Version „Track“ sogar 179). Leistungsmäßig überflügelt die Adventure ihre Boxer-Konkurrenz aber dennoch um 25 Pferde. Viel Kraft macht allerdings noch kein gutes Motorrad aus, denn das Fahrwerk muss sie auch geordnet auf den Boden bringen. Ab einer gewissen PS-Zahl funktioniert das eben nur mit einer Traktionskontrolle, zumindest wenn man auf der sicheren Seite bleiben will. Soll heißen, sobald zu viele Pferde am Hinterreifen zerren, greift das elektronische Fangnetz innerhalb von Millisekunden ein, bewahrt den Reifen vor dem Durchdrehen und rettet den forschen Reiter vor einem kapitalen Abflug. Das geniale System von Bosch namens MTC hat die Österreicherin genauso wie ABS serienmäßig an Bord und verfügt sogar über einen Schräglagensensor, Gewicht: federleichte 40 Gramm.

Welten besser als die Vorgängerin

Die 1190 Adventure fährt sich um Welten besser als ihre Vorgängerin. Endlich lässt sich der V2 ruckfrei aus dem Drehzahlkeller beschleunigen, die alte 990er hatte bei der Übung nur unwillig auf ihre Kette eingehackt. Die Gasbefehle werden nun mit „Ride-by-wire“-Technologie spontan und präzise umgesetzt. Dank ihrer geballten Leistung rennt die Adventure 250 km/h auf der Bahn. Muss das sein bei einer Reiseenduro? Nein, aber wie gesagt, man will bei KTM unbedingt die Klassensiegerin bauen und dafür kann reichlich Power nicht schaden.

Die neue Adventure legt ihren Fokus eindeutig auf mehr Straßentauglichkeit. KTM weiß natürlich, dass die Reiseenduro-Kunden ohnehin hauptsächlich auf Asphalt unterwegs sind, also machen gigantische Federwege keinen Sinn und folgerichtig schrumpften sie um 20 mm auf 190 mm. Auch wenn die 1190er wuchtig daherkommt, gewährt sie dank 860 mm Sitzhöhe auch Menschen unter 1,80 m Bodenkontakt mit beiden Füßen. Zumindest mit den Fußspitzen. Die Adventure wiegt vollgetankt 238 Kilo. Das ist absolut gesehen ein Haufen Gewicht, im Reiseenduro-Segment aber eher schlank.

Hauptständer im Elektronikpaket

Spielernaturen werden voll auf ihre Kosten kommen, schließlich lassen sich per Knopfdruck am Lenker vier Motor-Mappings einstellen: Sport, Street, Rain und Offroad. Gegen Aufpreis gibt es ein „Elektronikpaket“. Das beinhaltet ein elektrisch verstellbares Fahrwerk (EDS), Reifenluftdrucküberwachung und einen Hauptständer. Was Letzteres mit Elektronik zu tun hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Nein, er klappt nicht auf Knopfdruck aus.

Mit EDS kann bei der Dämpfung beliebig zwischen "Sport", "Street" und "Comfort" hin und her gesprungen werden. Per Knopfdruck, versteht sich, und das während der Fahrt. Im Cockpit werden sämtliche Infos digital angezeigt. Eigentlich gehört hier ein Warnaufkleber hin: "Guck endlich wieder auf die Straße!" Es ist aber auch zu verlockend, im Bordcomputer zu schmökern. Wie hoch ist denn gerade die Lufttemperatur?

Die Bremsen verdienen Bestnoten. Die Hardware, sprich: Bremszangen, stammt von Brembo, im Zusammenspiel mit der Bosch-Software steht die Adventure nach 39 Metern, wenn der Modus „Street“ gewählt wurde. Sobald der Handbremshebel gezogen wird, wirkt er gleichzeitig auf die Hinterradbremse ein. Wer jedoch nur den Fußbremshebel tritt, kann sicher sein, dass auch nur das Hinterrad verzögert wird. Im Modus "Offroad" lässt das System mehr Schlupf am Vorderrad zu und schaltet das ABS am Hinterrad komplett ab. Auf Schotter könnte es sonst passieren, dass der Bremsweg Richtung unendlich geht. Die Traktionskontrolle greift im "Offroad"-Modus erst ein, wenn der Hinterreifen sich doppelt so schnell dreht wie sein vorderes Pendant. Driftkünstler können die MTC auch ganz abschalten.

Auswringen bis zum Scheibenglühen

Besonders angenehm: Die neue Adventure hat serienmäßig eine Anti-Hopping-Kupplung! Man kann die Gänge runtertrampeln wie man will, es wird nie einen bösen Schlag geben, wenn die Kupplung wieder einrückt. Der Kupplungshebel lässt sich mit einem Finger ziehen. Dazu kommt noch ein butterweich und exakt zu schaltendes Getriebe. Das reizt natürlich, den V2 im Kurvengeschlängel auszuwringen, die volle Leistung im Modus „Sport“ abzurufen und die Brembos glühen zu lassen.

Die KTM gibt sich für ihre Größe verblüffend handlich, was zu einem nicht unerheblichen Teil an der Bereifung mit Conti TrailAttack 2 liegen dürfte, deren Dimension im Vergleich zur Vorgängerin vorne auf 19 und hinten auf 17 Zoll Durchmesser schrumpfte. Sie erreicht böse Schräglagen – und das mit Koffern!

Ach ja, Touren ...

Wozu ist die Adventure noch mal gebaut worden? Ach ja, Touren! Doch auch dort glänzt die Reiseenduro: Lenker, Sitzbank und Fußrasten lassen sich in je zwei Positionen perfekt auf die Fahrergröße einstellen. Warum ist das nicht bei allen Motorrädern selbstverständlich? Man stelle sich ein Auto vor, dessen Sitz sich nicht verschieben lässt! Bequem ist die Sitzbank noch obendrein und lange Etappen problemlos möglich, zumal das Tankvolumen auf 23 Liter gestiegen ist.

Reicht das, die R 1200 GS zu überholen?

Kritik? Wenig. Das Windschild lässt selbst in der obersten Position bei höheren Geschwindigkeiten Wirbel am Helm zu. Der recht hohe Verbrauch von fast sechs Litern beweist, dass 150 Pferde gefüttert werden wollen. Ein Listenpreis von 13.995 Euro ist zwar viel Geld, aber heutzutage für die geballte Ladung Technik fast schon ein Sonderangebot. Okay, die Zubehörliste ist lang und zumindest das „Elektronikpaket“ (800 Euro) sollte angekreuzt werden. Das „Gepäck Touring Paket“ für 1536 Euro dürfte sich ebenso großer Beliebtheit erfreuen wie das „Sound & Style Paket“ – macht weitere 1139 Euro. Letztendlich dürfte sich der Kaufpreis bei den meisten Kunden der 18.000 Euro-Marke nähern.

Ob es reicht, die R 1200 GS zu überholen? Bei den Zulassungszahlen – zumindest in Deutschland – vermutlich nicht. Das liegt aber eher daran, dass der Kollege, der Nachbar und der Zahnarzt die Boxer-Enduro fahren, also glauben viele, sie auch haben zu müssen. Für alle Individualisten unter uns ist die KTM jedoch die interessantere Wahl. Ein Tipp zum Schluss: Für die echten Abenteurer hält KTM die R-Variante bereit. Gleiche Leistung, aber mehr Federweg, mehr Bodenfreiheit und größere Räder – damit steht auch einer Afrika-Durchquerung nichts im Weg.