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Beauty und Biest

Fahrbericht Harley-Davidson Livewire

Motorrad Ulf Böhringer
Harley-Davidson Livewire

Die Harley-Davidson Livewire, weltweit erstes Elektro-Motorrad eines traditionellen Motorradherstellers, sieht nicht nur attraktiv aus. Ihr Antrieb lässt sie bei Bedarf binnen Sekundenbruchteilen brutal nach vorne stürmen, sie überzeugt aber auch dank eines guten Fahrwerks und reifer Elektronik

Die Harley-Davidson Livewire, weltweit erstes Elektro-Motorrad eines traditionellen Motorradherstellers, ist ein insgesamt sehr ansehnliches Ding geworden. Nach unserer ersten Probefahrt mit einem noch etwas rauhen Prototypen [1] 2015 konnten wir nun die für September verkaufsfertige Maschine fahren. Ihr Antrieb lässt sie bei Bedarf binnen Sekundenbruchteilen brutal nach vorne stürmen oder ganz kultiviert ihre Bahnen ziehen. Fahrwerk und Elektronik machen einen sehr reifen Eindruck.

„Wir haben allergrößten Wert auf das Styling, das Aussehen gelegt“, sagt Ben McGinley, verantwortlicher „Manager EV Styling“ bei Harley-Davidson. EV ist die Abteilung „Electric Vehicles“, deren Bedeutung innerhalb der 1903 in Milwaukee gegründeten und dort noch immer ansässigen Motor Company [2] in den nächsten Jahren stark wachsen wird. Fünf Jahre haben sie dort gefeilt, am Tank, am Rahmen, am Kennzeichenhalter, am höchst ungewöhnlichen Rücklicht und an allen anderen Teilen.

Bock mit Block

Die viele Detailarbeit hat nach Meinung der Testfahrergruppe aus Deutschland insgesamt gefruchtet: Von vorn und von der Seite ist die Livewire ansehnlich wohlproportioniert trotz ihres 104 Kilogramm wiegenden Akku-Blocks, der voller Lithium-Ionen-Zellen steckt. Die Livewire – das zeigt die erste Testfahrt – ist aber zugleich ein echtes Sportsbike geworden, das sich auf Land- und Bergstraßen zumindest gefühlt vor einer BMW S 1000 R (Test) [3] mit ihren 165 PS oder der 175 PS leistenden KTM 1290 Super Duke R (Test) [4] nicht zu verstecken braucht; ein realer Vergleich war gleich am Tag eins der Livewire-Existenz selbstverständlich nicht möglich. Die jüngste Harley hat also zwei Seiten: Beauty ist sie immer, aber sie kann auch Biest. Nicht nur akustisch sieht der amerikanische Hersteller sie als Düsenjet [5].

Zwei Marken versuchen bereits seit Jahren, einen Markt für E-Motorräder aufzubauen, beide sind Start-ups. Am längsten aktiv ist Zero aus Kalifornien. Schon vor zehn Jahren erschien das erste elektrische Straßenmotorrad. Fünf Jahre später rückte Energica aus Modena/Italien nach. Einen Durchbruch in Europa erreichten beide Marken bisher nicht, auch wenn sie ihre Produkte von Jahr zu Jahr weiterzuentwickeln vermochten und mittlerweile ein hohes technisches Niveau erreicht haben. Vergangenes Jahr erschien die Zero SR/F (Test) [6] schon etwas länger ist bei Energica die Energica Eva (Test) [7] im Programm.

Voraus ging das „Projekt Livewire“

Andere rennommierte Marken wie BMW [8] oder Honda haben die Entwicklung elektrischer Straßenmotorräder weit vorangetrieben, machen aber derzeit keine Anstalten einer baldigen Serieneinführung. Vor diesem Hintergrund wirkt Harley-Davidsons neues E-Krad ausgesprochen mutig. Ermuntert fühlen sich die Amerikaner durch ihre umfangreichen Kundenbefragungen: Nicht weniger als 12.000 Personen haben sie in den letzten Jahren zum Thema Elektromotorrad gelöchert – und zudem das weltweite „Projekt Livewire [9]“ gestartet. Dafür sind 43 funktionsfähige Prototypen gebaut worden.

Nun ist die Livewire also serienreif. Ab September dieses Jahres wird sie zeitgleich in vielen Märkten, auch dem deutschen, erhältlich sein. Zum stolzen Preis von 32.995 Euro zuzüglich Nebenkosten. Der muss den Absatz nicht zwingend einbremsen: Preise in dieser Größenordnung sind für Harley-Kunden nicht utopisch. Schon bisher gab es Fahrzeuge im Modellprogramm, die sogar die 40.000-Euro-Marke durchstoßen haben und blitzschnell abgesetzt werden konnten – allerdings waren das ultrareichlich ausgestattete Sondermodelle in limitierter Auflage mit aufwendigem Sonderlack.

Für bewusst konsumierende Lohas und Zahnwälte

Die Livewire ist im Vergleich zu einer CVO Limited [10] mit ihren immerhin 411 Kilogramm Gewicht und einer ausufernden Verkleidung für 42.600 Euro nachgerade ein Straßenfloh, nämlich 249 Kilogramm leicht. Keinerlei Verkleidung stemmt sich dem Fahrtwind entgegen oder hält Regen ab. Mit solchen Widrigkeiten werden sich Livewire-Kunden nach Überzeugung des Herstellers kaum auseinandersetzen: Zielgruppe sind gut oder sehr gut verdienende Leute zwischen Mitte 30 und Anfang 50 mit schönem Haus und schickem Auto, die im urbanen Bereich zuhause sind und eben dort auch ihren Zweiradspaß suchen. Unabhängig von ihrem Verhalten denken sie „grün“, das Wort „vegan“ ist ihnen geläufig. Jünger, städtischer und unterschiedlicher in allen Facetten werden die Livewire-Käufer sein als bisherige Harley-Kunden, sagt man in Milwaukee, Luxus ist für sie so normal wie Design ihnen wichtig ist.

Zum Glück hatten die Cops gerade keine Zeit

Denkt man diesen Gedanken zu Ende, läuft alles auf einen Livewire-Erfolg hinaus. Denn für diese Kunden bedeutet Strom für 235 Kilometer im Stadtverkehr ein fettes Polster, und auch die möglichen 113 Kilometer bei konstant 120 km/h auf der Autobahn klingen nach viel. Im kombinierten Verkehr schafft die Livewire mit ihrem 15,5 kWh-Akku – davon sind 13,6 kWh nutzbar – immerhin 152 Kilometer.

Auf ungefähr dieselbe Distanz kamen wir rechnerisch auch nach unserer Testfahrt: Der Test in und um Portland/Oregon endete nach 100 Kilometern mit rund 35 Prozent Stromvorrat. Anders als möglicherweise viele künftige Livewire-Kunden hatten wir aber noch einen riesigen Appetit auf mehr. Denn die Livewire, nominell nur 78 kW stark – in alter Verbrennertradition sind das 106 PS – stellte sich als formidables, ungeheuer fahraktives Sportbike heraus. So recht geeignet, um den kurvigen Skyline Boulevard entlang zu fräsen. Zum Glück hatten just während unserer Probefahrt alle Cops der Region gerade keine Zeit für Geschwindigkeitsüberwachung.

Gedanken an Katzen

Die Fahrwerksgeometrie in Verbindung mit den Komponenten für Radführung und Bremsen lassen die Livewire ausgesprochen handlich erscheinen. Das Paket aus souveränem Durchzug, großer Agilität und erfreulicher Handlichkeit führt in Kombination mit einer sportiven Sitzposition und insgesamt gelungener Ergonomie zu hohem Fahrvergnügen. Und zwar nicht nur an bekannten Harleys gemessen. Ein knapper Dreh am – Verzeihung – Gasgriff genügt, schon schnellt die Livewire nach vorn – Gedanken an hungrige Raubkatzen blitzen auf.

Nur 1,9 Sekunden gibt der Hersteller für den Durchzug von 96 km/h auf 128 km/h an, drei Sekunden soll der Sprint aus dem Stand auf 96 km/h dauern. Gefühlt stimmen diese Werte voll und ganz. Je nach gewähltem Fahrmodus – es gibt vier vorkonfigurierte und drei individuell konfigurierbare – genügt zum Einbremsen alleine das Zurückdrehen des Griffs, um so flott Tempo abzubauen, dass das Bremslicht von alleine leuchtet und so den nachfolgenden Verkehr warnt. Je mehr Energie die Livewire in ihren Akku rekuperieren darf, desto seltener muss man die Bremse betätigen.

Die 300 Millimeter-Doppelscheibenanlage mit radial montierten Vierkolben-Monoblocksätteln von Brembo ist von ausgezeichneter Qualität, hochwirksam, bestens dosierbar und gewisslich so gut wie frei von jeglichem Fading. Im Hintergrund lauert ein Bosch-Fahrsicherheitspaket mit allen Schikanen samt Kurven-ABS, dynamischer Schlupfregelung und vielerlei Funktionen mehr. Auf ähnlich hohem Niveau wie die Bremsanlage arbeiten die feine Upside-down-Gabel und das nicht minder hochwertige Federbein, beide aus dem renommierten Hause Showa.

Alle Parameter sind einstellbar, wobei wir mit der Grundeinstellung wunderbar zurechtgekommen sind. Für Einstellexperimente fehlte die Zeit; auch für das Konfigurieren individueller Fahrmodi reichte sie nicht. Die vier Stufen „Road“, „Sport“, „Rain“ und „Eco“ gefielen durch die Bank, sie geben unterschiedlich viel Leistung frei und rekuperieren auch verschieden stark. Zum Fahrmodus-Wechsel genügt ein einmaliger Knopfdruck – clever gemacht.

Alle Spielarten der Konnektivität

Durchaus bis zum Vorzeige-Status hat Harley auch das Bediensystem entwickelt. Es beherrscht nicht nur alle Spielarten der Konnektivität, sondern lässt sich auch mit überschaubarem geistigem Aufwand individuell einstellen und sein 4,3 Zoll-TFT-Display ausgezeichnet ablesen. Auch die sonstigen Bedienungselemente im Cockpit – Blinker mit Rückstellautomatik, Tempomat, Startprozedur – erfordern kein mehrsemestriges Studium. Extrem vielfältig zeigt sich die Livewire-App fürs Smartphone: Mit ihr kann man nicht nur sämtliche auf der zuletzt absolvierten Ausfahrt erlebten Fahrzustände reproduzieren, sondern auch zahlreiche Parameter am Fahrzeug verändern.

Die Funktionen der Livewire sind also hoch entwickelt. Aber sie zeigt auch Herz, genauer einen Herzschlag. Hat ihr Fahrer sie fürs Losfahren scharfgemacht, setzt ein zartes Pulsieren der Sitzfläche ein, das ins Gefühlszentrum des Fahrers zielt. „Meine Livewire lebt, und sie ist eine echte Harley“, lautet diese Botschaft. Das Fahrgeräusch, vom E-Motor, den Reifen und dem Zahnriemenantrieb großenteils vorgegeben, hat man in Milwaukee in Richtung „Düsenjet“ weiterentwickelt. Dass der Tiefflieger bei einem bösen Crash in Feuer und Rauch aufgeht wie schon so mancher Tesla, ist glücklicherweise nicht zu befürchten: 20 der 43 gebauten Prototypen sind am Ende ihrer primären Mission gegen harte Hindernisse geknallt worden; keine hat Feuer gefangen, versichert ein Harley-Entwickler.

Nur wenig Level-3-Ladepunkte

Die Achillesferse batterieelektrischer Fahrzeuge, das Laden, „dauert von null auf hundert Prozent an einer Gleichstrom-Schnellladesäule nur eine Stunde“, versichert Harley-Davidson. Lediglich 40 Minuten sollen für 80 Prozent Füllstand ausreichen. Stimmt vermutlich. Das Problem, zumindest in Deutschland, ist die (noch?) geringe Zahl an Level-3-Ladepunkten.

Sie finden sich, wenn überhaupt, entlang der Autobahnen und manchmal auch in Außenbereichen von Kommunalunternehmen. Eine Ausnahme stellt die Filiale Piding von Aldi-Süd nahe Berchtesgaden dar, ob es dort ein nettes Café für die relativ kurze Wartezeit gibt, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Einen der zigtausend Level-2-Ladepunkte anzusteuern, die es in Deutschland mittlerweile gibt, bringt leider nicht mehr als das Andocken an einer x-beliebigen Schukosteckdose. Hier wie dort vergehen laut Hersteller 12,5 Stunden von null auf 100 Prozent. Pro Stunde fließt dann nur Strom für 21 Stadt-Kilometer.

Zielgruppengerechtes heimisches Schnarchladen

Insofern ist es nur folgerichtig, dass Harley-Davidson bessergestellte Städter als potenzielle Kunden ins Visier nimmt: Diese Klientel besitzt vermutlich ausnahmslos eine häusliche Garage, in der viele nicht mal eine sogenannte Wallbox montieren düften. Denn für städtische Ausflüge und einen Besuch bei Freunden in einem Vorort taugt die Livewire auch ohne dass man sich die geringsten Gedanken über den Stromvorrat machen müsste. Innerstädtisches Stop & Go beherrscht sie zudem gleich gut wie Beschleunigungs-Anfälle auf freier Strecke: Es gibt kein Schalten und kein Kuppeln, kein Konstantfahrruckeln und keine hitzeglühenden Schenkel an der Ampel. Dafür hat man ein offenes Ohr für den Ampel-Plausch mit der Sozia oder dem alten Harley-Kumpel, sofern der den Killschalter betätigt und so vorübergehend das von Harley inzwischen patentierten Bollern des Motors stilllegt.

Da das alles eine Frage der Einstellung und des Standpunkts ist, aber nur wenigen das elektrische Kradfahren bereits bekannt ist, gilt: Erst wenn man’s live probiert, weiß man, ob eine Livewire zu einem passt. Eine ausgiebige Probefahrt sei hiermit ausdrücklich empfohlen.


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[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Tage-der-Tentakel-2057867.html
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[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Erster-Fahreindruck-Harley-Davidson-Livewire-2752681.html
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