Spiel mir das Lied vom Synthiesprit

Klartext: CO2-neutrale Treibstoffe sind sinnvoll

In den Köpfen der Avantgarde fahren irgendwie schon alle ein Elektroauto. In der Realität fährt die Mehrheit jedoch alte Verbrenner. CO2-neutraler Treibstoff für die Verbrennung in Bestands-Fahrzeugen wird häufig abgewunken, weil er so ineffizient ist. Aber brauchen wir das Zeug nicht sowieso?

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Viele Menschen legen seit vielen Jahren Hoffnung in synthetisch erzeugte Kraftstoffe. Ich gehöre zu ihnen. CO2-neutral und ohne Lebensmittelkonkurrenz hergestellte, flüssige Kohlenwasserstoffe wären nämlich eine Hilfe für zwei Probleme: Langstreckenanwendungen, bei denen Batterien unsinnig groß würden (Containerfrachter, Langstreckenflugzeuge, Zugmaschinen) und die neutrale Energieversorgung des gigantischen, stetig weiter wachsenden Fahrzeugbestands.

In der öffentlichen Diskussion steht das Thema „CO2-neutrale Synthesetreibstoffe“ ganz nahe bei „wir machen gar nichts, das haben wir nämlich schon immer so gemacht“. Leicht nachzuvollziehen, warum das so ist: Beide Themen, obwohl eigentlich diametral gegensätzlich ausgerichtet, finden häufig dieselben Fürsprecher. Es ist bei einer oberflächlichen Betrachtung auch recht einfach, Synthesetreibstoffe zu verwerfen. Sie sind nämlich krass ineffizient.

Wegschmeißen, Leaf fahren

Erzeugt man aus regenerativem Strom Drehmoment auf ein angetriebenes Rad, dann erreichen beim Weg über Synthesesprit und den ineffizienten Verbrennungsmotor nur 10 bis 15 Prozent der erzeugten Erstenergie das Ziel „Fortbewegung“. Beim batterielektrischen Antrieb sind es gut 70 Prozent. Aus diesem recht klaren Umstand heraus scheint die Lösung klar: Das brauchen wir gar nicht erst zu Ende entwickeln, das ist zu teuer und die Leute sollen Nissan Leaf (Test) oder VW ID.3 fahren, fertig.

Darin liegt eine arrogante Annahme: Dass jeder, der individuelle Mobilität benutzt, sich ein E-Auto kaufen kann. Das stimmt nicht einmal in den reichsten Ländern. Auf dem Balkan oder in Westafrika kaufen die Massen dann E-Autos, wenn wir sie wegen irgendeiner Nichtigkeit abwracken, sodass Lieferanten die Ware zum Schleuderpreis erwerben können. Es sieht für mich auch wie ein Totschlagargument aus. Als die Kilowattstunde Speicherkapazität bei Traktionsbatterien noch 1000 Euro kostete, gestand man der Technik auch die absehbaren Verbesserungen zu.

Beim Synthesesprit gibt es absehbare deutliche Verbesserungen der Effizienz, hauptsächlich im Bereich der Spriterzeugung (der Verbrennungsmotor macht nur noch kleine Sprünge). Wenn wir darüber reden, eine Technik für die Zukunft auf den Markt zu bringen oder sie zu verwerfen, gehört sowas doch unbedingt dazu. Sonst hätten wir heute nur eine Handvoll Ladestationen für die Minderheit, die 1000 Euro pro kWh Batterie plus das Auto plus Margen plus Steuern auf alles zahlen kann.

Verbieten!

In einigen Ländern steht auf dem Plan, Verbrenner zu verbieten. Fast alle dieser geplanten Verbote betreffen jedoch nur neu zuzulassende Fahrzeuge. In Deutschland liegt das durchschnittliche Fahrzeugalter bei 9,4 Jahren (Erhebung 2018). In Polen sind es 17,4 Jahre. Bis auf diese Weise eine Verkehrswende zu vorwiegend CO2-neutraler Antriebsenergie stattfindet, vergeht also viel Zeit.

Man könnte den Umsatz beschleunigen durch ein generelles Verbot von Verbrennern, und so viele neue batterielektrische Vehikel (BEV) herstellen, wie sich die Bevölkerung leisten kann. Da die Herstellung von BEV jedoch weiterhin einen erheblichen CO2-Rucksack erzeugt, ist das beim zweiten Hinschauen nicht die schlaueste Lösung. Für „alles neu“ brauchen wir eine deutlich nachhaltigere Fertigung. Die gibt es genauso wenig wie Synthesesprit.

Wir brauchen diese Dinge aber langfristig gesehen beide. Selbst ohne Autos: Womit fliegt die Transatlantikmaschine der Zukunft? Es dürfen ruhig weniger Jets über den Atlantik fliegen. Wenn sie es jedoch sollen, dann doch besser mit CO2-neutralem Kerosin. Wenn es weiterhin Warenverkehr geben soll, dann brauchen Containerschiffe eine kompakte Antriebsenergiequelle. Fusionsenergie ist noch weit entfernt vom kommerziellen Einsatz. Synthesetreibstoffe sind wesentlich näher. Wir müssten uns nur entscheiden, ob wir sie wollen oder nicht. Ich behaupte: Wir brauchen sie sowieso. Warum nicht welche für Autos wenigstens anbieten? Für Biokartoffeln geben Einkäufer ja auch mehr Geld aus.

Zu teuer zum Verschwenden

Ein besseres Argument für „wir wollen das nicht“ lautet: Da die Effizienz von Synthesetreibstoffen derart schlecht ist, lohnt es sich eher, aus Stromüberproduktion erzeugten Wasserstoff anderweitig zu verbrauchen, zum Beispiel im Gasnetz für Haushalte. Dem ähnelt der Gedanke, dass jede Kilowattstunde, die ineffizient auf Synthiesprit geworfen wird, anderswo nicht zur Verfügung steht. Das Anderswo müsse daher im schlechtesten Fall Kohlestrom verwenden.

Realpolitik

Bei dieser Betrachtung kann ich nicht anders, als zu denken: Ich dachte, das Thema wird jetzt als dringend angesehen? Seit vierzig Jahren warte ich darauf, dass der Schutz unseres Lebensraums ernsthaft in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Jetzt ist es soweit, dachten viele. Kurz. Dann kam wieder Realpolitik. Natürlich können wir weiter Kohle verstromen, damit der Strom für alle da ist, denen der Synthesesprit den Solarstrom weggeschnappt hat. Genauso natürlich können wir dann aber auch weiter Benzin aus fossilem Erdöl verfahren. Vielleicht sogar noch natürlicher, denn die Stromerzeugung trägt doppelt so viel zum Eintrag fossilen Kohlenstoffs in die Atmosphäre bei wie der gesamte Verkehrssektor.

Fahrzeugbestand verschwindet nicht über Nacht

Die Besitzer werden alte Autos fahren, wenn sie damit ihre Familien versorgen können. Die Alternative dazu, diesen Menschen teuren CO2-neutralen Sprit zu verkaufen, liegt also selten im Elektroauto, sondern häufig darin, ihre aktuelle Mobilität komplett zu verbieten. Wenn ich sehe, wie selbst das letztendlich in beide Richtungen fast egale Tempolimit im Bundestag wieder gescheitert ist, glaube ich nicht daran, dass so etwas demnächst in Zentraleuropa umgesetzt wird.

Der mutigste nationale Vorstoß stammt aus Irland, das aufgrund geringer Größe keine Reichweitenängste kennt: keine Verbrenner-Neuzulassungen ab 2030, 2045 sollen alle Verbrenner-Antriebe (inklusive Bestand) die Zulassung verlieren. Unter den optimalen Inselbedingungen wird es also (vielleicht) in 25 Jahren ernst. Ich glaube nicht, dass sich das kontinentale Europa mehr leistet als ein Verbot von Neuzulassungen – wenn das überhaupt kommt. Wir können den Bestand nicht wegdiskutieren. Wir wollen keine radikalen politischen Einschnitte. Also warten wir ab.

Abwarten und Erdöl trinken

Warten wir ab, bis so viele Elektroautos da sind, dass sie für jeden interessant sind, der gerade seinen 123er-Mercedes altersbedingt ablösen muss. Warten wir noch einmal 40 Jahre. Schauen wir, was passiert. Werden die Prognosen so gut bleiben, wie sie waren? Wie schauen die Grenzwertkaskaden live so aus? Welche Überraschungen tauchen noch auf? Dass der Permafrost die Alpenberge zusammenhält, da dachten wir damals noch nicht dran als Problem. Wenn es uns wirklich ernst wäre mit der Begrenzung der Erderwärmung, dann müssten wir an allen Stellen gleichzeitig anfassen. Kein Kohlestrom. Kein fossiles Benzin. Keine fossil befeuerte Landwirtschaft.

Ganz nüchtern: Blenden Sie die aktuellen Diskussionen aus. Betrachten Sie nicht das, was wir sagen, sondern was wir tun: Der weltweite Verbrauch an Erdöl sinkt nicht, sondern er steigt. Wir werden alle angepeilten Klimaziele verfehlen. Der weiterhin enorme Produktionsrucksack der als „sauber“ geltenden E-Autos und das Herumbummeln beim Thema „Bestand“ sind nur kleine Symptome einer viel größeren allgemeinen Ursache: Bevor es nicht wirklich wehtut, ändert sich nur die Oberfläche. Gehen wir in uns: Glauben wir wirklich, dass es für uns schlimm wird? Naja. Et hätt noch immer jot jejange.

Für viele in den aktuell mächtigen Generationen langt es ja noch ‚naus, wie dodokay immer sagt. Es gibt also keine Synthesetreibstoffe, keinen Willen dazu. Es gibt allerdings neue Ultrafast-Fashion-Anbieter, die bis zu 4500 neue Produktdesigns pro Woche auf einen Markt werfen, der schon vorher einen großen Teil der Produktion einmal getragen oder ungetragen dem Abfall zuführte. Eine Bevölkerung, die ihre prognostizierten Probleme gesammelt ernst nimmt, sieht anders aus.