Der Mensch hat seine eigene Aufmerksamkeit gehackt. Abhilfe schafft nur Abschottung

Klartext: Ode an die Ignoranz

Den größten Aufwand mit Nabelschau-Selbstkritik betreibt in den letzten Jahren wohl der Spiegel. Jetzt fragt er, warum Wutleser nicht dumm sind. Gleichzeitig liest sich eine Autobild wie vor 20 Jahren. Es gibt informationstechnische Gründe für beides

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(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Kürzlich brachte der Spiegel im Print ein recht interessantes Stück. Es befasste sich in ungewohnter Länge mit dem Umstand, dass Leser, die alle großen journalistischen Publikationen kritisch sehen, ja nicht alle strunzdumme Schnieptröten sind, sondern durchaus neben ihrer Wut auch Bildung und Verstand mitbringen können. Für den Redakteur war das offenbar eine neue Erkenntnis. Naja, besser spät als nie.

Der Text enthält Interviews mit Lesern, die verärgert, aber nicht doof sind. Er enthält auch ein Interview mit dem Chefredakteur der NZZ Eric Gujer, weil der Spiegelredaktion zu ihrer Erkenntnis intelligenten Lebens in der Opposition auffiel, dass die gebildeten Konservativen des gesamten deutschsprachigen Raums tendenziell ganz gerne dieses Schweizer Urgestein des Publizismus' lesen. Der Redakteur muss jedes einzelne Interview mit Springers Herrn Döpfner vermieden haben, der stets gern Werbung für die Schweizer macht.

Überbeschleunigung

Aus aller Recherche fallen ein paar ganz interessante Gedanken heraus, Dinge wie die unterhaltsame Postulierung einer "postkompetitiven Verbitterungsstörung", und am Ende schließt der Langformtext mit der Kalenderweisheit, dass man anderen Menschen mit Respekt begegnen sollte. Das hätte man auch aus dem Dalai-Lama-Geschenkbuch oder einem Glückskeks erfahren können. Was jedoch überhaupt nicht vorkommt, ist der technische Grund all dieser Phänomene, mit denen sich die Presse in den letzten Jahren vermehrt herumschlägt. Bei der konzentrierten Nabelschau verpasst der Spiegel also das, was den Bauch gerade von außen schaukelt: die überbeschleunigte Informationsgesellschaft.

Beleidigt. Autobild.

Besonders bewusst wurde mir das, als ich die Tage im Wartezimmer zwei Autobild-Ausgaben Back to Back las. Themen, die ich lesen wollte, fanden als Doppelseite Bild mit kleinen Bildtextchen statt. Themen, die lang liefen, interessierten mich nicht. Das muss schon irgendwie richtig sein, denn ich kaufe keine Autobild, habe überhaupt jemals nur ein Heft gekauft. Der Zielgruppe wird es schon taugen, die Redakteure da oben in Hamburg sind ja wahrscheinlich auch nicht doof.

Die Zielgruppe sind typischerweise Menschen, die mit Autozeitschriften sozialisiert wurden: mittlerweile im mittleren bis fortgeschrittenen Alter, mit einer Geschichte gekaufter Autos, männlich. Für mich liest sich das Heft daher genauso wie vor 20 Jahren, und ich glaube, darin liegen sowohl Absicht als auch Grund. Leserschaft und Redaktion haben sich aneinandergelebt, wie es in solchen Fällen eben läuft. Von außen aus dem Rest der Gesellschaft betrachtet sieht man diese gewachsene Intimität nicht. Die Autobild schaut deshalb für Outsider aus wie der Spiegel, nur eben im KFZ-Fachbereich: Sie wird als Teil einer Verschwörungsfront gesehen, bestehend aus Autoindustrie, Politik und Autopresse. Die Einordnung nehmen nicht nur unzufriedene Kernleser vor, sondern auch Nieleser, die das Vorurteil von ihrer Peer Group ungeprüft übernehmen.

Respekt ist persönlich, das Netz nicht

Der Spiegel stellte fest, wie höflich selbst unzufriedene Leser sind, wenn man nur einmal mit ihnen spricht. Das kann ich aus bald 20 Jahren Leserseelsorge nur unterstreichen: Die erste Wut richtet sich gegen ein anonymes Etwas, ein Heft, ein Verlag, eine Institution, vielleicht sogar nur: ein Thema. Es antwortet aber ein Mensch. Das beruhigt fast immer fast alles so weit, dass man miteinander sprechen kann, häufig gar bis zum Konsens, mindestens aber zu einem Verständnis. Wenn man drüber spricht, ist das alles meist gar nicht mehr so schlimm. Der Anlass des Spiegels ist dennoch ein realer: Es geistert eine bemerkenswerte Dünnhäutigkeit durch Deutschland, ja: die Welt, die unabhängig vom Respekt oder der Weltnachrichtenlage existiert.

Selbst metaphorische Haut wird nicht dünn durch eine einzelne ärgerliche Information, sondern wie bei der echten Haut macht es die Wiederholungsrate aus. Diese Wiederholungsrate hat sich massiv erhöht, weil unser Umgang mit Information sich so geändert hat, dass man ihn bald ins DSM schreiben müsste: Jede Benachrichtigungsbimmel muss sofort rezipiert werden, beim Essen, im Bett, während des Gesprächs und alleine sowieso. Studien zu diesem Thema zeigen alle dasselbe: Der Mensch kann nicht gut mit Ablenkung umgehen, er geht im Gegenteil geradezu getrieben jeder Ablenkung nach.

Ärger oder Aufregung sind starke Emotionen. Ihnen wird also vermehrt nachgegangen. Sie werden auch vermehrt absichtlich provoziert, mit echten Lügen oder auch nur mit einem Wahrheits-Spin, der sich von der Lüge nur noch in kleinen Formalitäten unterscheidet. Wenn ich meinen typischen Ärgernissen immer nachgehe, werde ich davon aber nicht dickhäutig, sondern meine Aufregung triggert immer schneller, ein gelerntes, verstärkendes Verhalten. Genau das sehen wir in Masse: Ein Jeder schnappt nur in sein Lager ein und nach den Anderen, Bösen nur mit Wut.

"Man muss doch ..."

Mein Leben lang habe ich Ratschläge à la "aber man muss doch ..." ignoriert. Das hat gezeigt, dass man eben nicht muss. Man muss kein Handy haben, wenn man das doof findet. Dito Facebook. Internet. Auto. Fernseher. Man muss auch nicht Dinge tun, nur weil sie gerade en vogue sind. Im Gegenteil hilft es häufig, sich an solchen Massenmeinungsbeschleunigern nicht zu beteiligen.

Das gilt letztendlich auch für Nachrichten. Ein Kollege klagte vor einiger Zeit, wie sehr ihn die Nachrichtenlage stresst. Mein Vorschlag "nicht lesen" war für ihn dennoch unvorstellbar. Man muss doch informiert sein! Wirklich? Ich lese keine täglichen Nachrichten. Ich lese Bücher. Ich lese ausgewählte Artikel, die mich interessieren. Ich schaue kein Rundfunk-Fernsehen. Ich schaue mir on demand Streaming-Inhalte an. Ich kann aus jahrzehntelanger Erfahrung sagen: Du verpasst da nichts Wichtiges. Das Wichtige kommt schon zu dir. Unser Problem liegt längst nicht mehr darin, dass wir Wichtiges verpassen, im Gegenteil: Wir können das Unwichtige nicht lassen. Da hilft nur radikale Ignoranz.

Superkraft: Ignoranz

Wenn ich inmitten meines Facebook-Streams sitzen und alles einfach ignorieren könnte, wäre ich ein Übermensch. Vielleicht gibt es die, die Datenlage spricht aber energisch dagegen. Wir bilden uns nur gern ein, dass wir der eine Übermensch sind, der all das kann, was "den Anderen" Schwierigkeiten bereitet, weil sie halt einfach nicht so toll sind wie wir. Nein, der erste Schritt, die dünne Haut nachwachsen zu lassen, liegt in der demütigen Erkenntnis, dass wir nicht besser sind als die Anderen und genau deshalb mit der Axt brachial alles zusammenstutzen müssen, was uns in die Haut piekt, bis sie überempfindlich wird.

Benachrichtigungen jeder Art: sofort abschalten. Ich verarbeite jeden Tag hunderte von Nachrichten jeder Art von Email bis Messenger-Anfragen. Ich habe mir eingeredet, das effizient neben der Arbeit zu können. Dann habe ich es einmal gemessen. Es war die übliche Selbstlüge. Benachrichtigungen können dir den ganzen Tag wegfressen, sie erzeugen Stress durch Aufregung und dann noch einmal dadurch, dass du deine eigentliche Arbeit nicht gemacht hast. Ich schalte jetzt ein bis drei Mal am Tag die Nachrichtenkanäle ein, den Rest der Zeit sind sie aus. Plötzlich habe ich Zeit.

Die Axt der Abschottung

Viele Forscher und Redaktionen haben sich damit befasst, wie moderne Ablenkungsmechanismen auf uns wirken: Tendenz stark negativ. Die Menschheit hat ihre eigene Aufmerksamkeit gehackt. Bis wir die Technik und unsere angeborenen Verhaltensweisen wieder in eine brauchbare Balance gebracht haben, hilft uns nur die Axt der Abschottung. Wenn wir einmal wieder zur Ruhe gefunden haben, können wir noch einmal über Schreiber und Leser sprechen. Wenn es dann noch nötig ist. Vielleicht stellen wir mit etwas Seelenruhe auch fest, dass der ruhige Mensch seltener Probleme mit Respekt hat, weder mit erhalten noch geben.