Mercedes SLS AMG: Unterwegs im Flügeltürer

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Laguna Seca (Kalifornien/USA), 9. November 2009 – Dieter Zetsche, der Chef der Daimler AG, lässt es sich nicht nehmen, einige Journalisten zunächst höchstpersönlich als Beifahrer in dem neuen Flügeltürer mitzunehmen, bevor die sich selbst ans Steuer des Mercedes SLS AMG setzen können. Und der Konzernlenker gibt beim Anfahren in der Kurve reichlich Gas, obwohl die Straße noch Feucht vom Reif der vergangenen Nacht ist. Doch der neue Über-Mercedes SLS gehorcht dem Chef aufs Wort und spurtet nach vorn, ohne Traktion zu verlieren,. "Der SLS soll komfortable Alltagstauglichkeit und sportliche Rennstreckenfähigkeit miteinander verbinden.", erläutert Zetsche. Dann ist es endlich soweit: Ich kann den schwäbischen Super-Sportler selbst er-fahren.

Startvorbereitungen

Klar, am auffälligsten ist der SLS, wenn er seine Flügel schwingt – also mit geöffneten Türen vor einem steht. Wie eine Möwe im Landeanflug scheint der Wagen sanft auf die Straße zu schweben. AMG, die Performance-Marke von Mercedes, setzt bei ihrem ersten komplett in Eigenregie entwickelten Auto genau dieses eine Stilmittel ein, um an den legendären 300 SL von 1954 zu erinnern, den die Amerikaner treffend "Gullwing" (Möwenflügel) tauften. Aber der neue SLS will der Design-Zitate zum trotz kein Retro-Auto sein. Flach mit extrem langer Nase zischt der reduziert gezeichnete Wagen über den Asphalt. Und die Flügeltüren sind technisch nicht mit denen des alten 300 SL vergleichbar. Würde der SLS nach einem Überschlag auf dem Dach liegen, explodieren automatisch kleine Sprengsätze, welche die Türlager zerstören und so ein leichtes Abziehen oder Wegdrücken der Flügeltüren ermöglichen sollen. Wer aus seinem SLS zum ersten Mal aussteigt, läuft allerdings Gefahr, sich den Kopf leicht an der Innenverkleidung der Tür zu stoßen – was wegen der weichen Materialien ohne Blessuren abgeht. Nach diesem einen Rempler ist man darauf eingestellt und für die Zukunft außer Gefahr.

Ein bisschen wie im Düsenjet

Das ansprechend reduzierte Design der Karosserie setzt sich in der Kabine fort – nichts wirkt überfrachtet. Schick sind die ein wenig an Flugzeug-Triebwerke erinnernden Lüftungsdüsen, die wir wohl bald auch in anderen Mercedes-Sportwagen wiederfinden werden. Der Wahlhebel des Siebengang-Doppelkupplungsgetriebes sieht wie ein kleiner Schubregler aus und lässt sich ohne zusätzlichen Knopfdruck in die entsprechende Position ziehen. Auf der geradlinigen Mittelkonsole warten hintereinander angeordnete, zum Fahrer geneigte Knöpfe auf Druck-Befehle. Hier lässt sich der Motor starten, stufenweise das ESP abschalten und das AMG-Menü aufrufen. Über letzteres kann der Fahrer beispielsweise ins Fahrzeug-Setup eingreifen, den Race-Timer starten oder sich die genaue Kühlmittel-Temperatur anzeigen lassen.

Mercedes SLS AMG: Unterwegs im Flügeltürer

Sport für Große

Die Mittelbahnen der SLS-Sitze sind etwas weicher gepolstert als die Seitenwangen, was als gelungener Kompromiss zwischen Langstrecken-Tauglichkeit und Race-Fähigkeiten erscheint. Auch große Menschen haben jede Menge Freiheit für Beine und Kopf. "Ich bin ein Sitzriese, und ich muss hier schließlich auch reinpassen", sagt mir Zetsche. Für kleinere Zeitgenossen ist es allerdings nicht ganz einfach, sitzend den in luftiger Höhe schwebenden Türgriff zu erreichen. Hier gilt es entweder, sich noch mal aus dem Sitz zu stemmen oder bereits beim Einsteigen die Tür mitzuziehen. Außerdem gibt es ein Band mit Klettverschluss als Zubehör, welches am inneren Türgriff befestigt werden kann – was aber der Optik nicht unbedingt zuträglich sein dürfte. In Sachen Ablagen hält sich der Supersportler vornehm zurück: Die Mittelkonsole bietet zwei kleine Fächer, an der Rückwand zwischen den Sitzen wartet eine flache Ledertasche auf Kleinkram. Ein Handschuhfach gibt es selbstverständlich auch – aber in den Türen kann nichts verstaut werden. Natürlich müssten Ablagefächer dort mit einem fest schließenden Deckel ausgerüstet werden, da sonst bei geöffneter, also beinahe Kopf stehender Tür, der Fachinhalt der Schwerkraft folgen würde.

Doppelt ausgewogen

Die Räder des SLS werden an Doppel-Dreiecksquerlenkern aus Aluminium geführt. Radführung und Federung sind hier voneinander getrennt, was zu einem ausgesucht präzisen Fahrgefühl führt. Dabei ist die gesamte Feder-Dämpferabstimmung so ausgewogen, dass ich zum Beispiel erhabene Fahrbahnmarkierungen höre, aber nur zart spüre – ganz im Gegensatz zum etwas härter abrollenden E 63 AMG. Vom ruhigen Cruisen mit dem Flügeltürer über die Landstraße kann man kaum genug bekommen – auch nach Stunden steige ich ohne Ermüdungserscheinungen, ja eigentlich erfrischt von so viel Fahrspaß, aus dem Wagen. Und auf der Rennstrecke enttäuscht der SLS dann ebenfalls nicht: Mit spielfreier Direktlenkung lässt sich der Parcours ohne Wanken oder Nicken im Eiltempo durchfahren. Das Lenkrad ist ganz nebenbei das Schönste in der ganzen Mercedes-Angebotspalette. Mit gut greifbarem velourüberzogenen Kranz und unten abgeflacht, wirkt es nicht so wuchtig wie andere Konzern-Steuerräder. Die besonders leichten Verbund-Bremsen des SLS werden beherzt in die Zange genommen – was mir sowohl im Alltag und erst recht auf der Rennstrecke gefällt, da sich das Stoppsystem ausgesprochen gut dosieren lässt.

Betörendes Röhren

Hinter der Vorderachse, also in so genannter "Front-Mittelmotor"-Anordnung, schlägt das Herz des SLS: ein überarbeiteter 6,3-Liter-V8. Der Basismotor heimste 2009 die renommierte Auszeichnung "Best Performance Engine of the Year" ein. Dank diverser Modifikationen wie beispielsweise der komplett neu entwickelten Ansauganlage, der Überarbeitung des Ventiltriebs und der Nockenwellen sowie strömungsoptimierter Fächer-Krümmer bringt es der Motor jetzt auf 571 PS – 46 PS mehr als beispielsweise im E 63 AMG. Das maximale Drehmoment des nach dem Prinzip "Ein Mann, ein Motor " gefertigten Aggregats steigt um von 630 Nm auf 650 Nm und liegt bei 4750 U/min an. Schon beim ersten Gasgeben war ich vom Sound des Saugermotors begeistert: Grollend gurgelt das Hochdrehzahl-Aggregat seine Arbeitsfreude heraus. "Wir wollen mit dem SLS-Motor einen richtig guten Klangteppich ausbreiten" sagt uns noch AMG-Chef Volker Mornhinweg. Das hat funktioniert, sicher auch wegen des absichtlich wie Zündaussetzer klingenden "Pockens", was uns beim Gaswegnehmen von hinten einlullt. Mit sensationellem Ansprechverhalten lädt der Motor zu dynamischer Fahrt ein. Tritt man das Gaspedal durch, geht es in 3,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h, in 11,7 Sekunden absolviert der SLS AMG den Sprint auf Tempo 200.

Mercedes SLS AMG: Unterwegs im Flügeltürer

Leichtigkeit und Effizienz

Der Rennmotor des SLS fällt durch viele Superlative auf. So konsumiert er beispielsweise bei13,2 l/100 km im Schnitt 0,023 Liter Super pro PS – ein Mini Cooper mit 120 PS und einem Verbrauch von durchschnittlich 5,4 l/100 km auf 0,045 Liter Benzin pro PS. Diese Rechnung schmälert zwar nicht den Gesamtverbrauch des SLS, ist aber ein Hinweis auf die sensationelle Effizienz seines Motors. Und dabei ist die Maschine auch noch richtig leicht: 205 kg bringt es auf die Waage, was einem Wert von 0,36 kg pro PS entspricht. Insgesamt muss das Aggregat mit 1620 kg Fahrzeuggewicht fertig werden. Der Aluminium-Spaceframe und die Alukarosserie tragen dazu bei, den unter anderem mit acht Airbags ausgestatteten Wagen so leicht zu machen. Dank des Spaceframes ist der SLS zudem außerordentlich steif, wie eine Granitplatte er scheint sich um keinen Millimeter zu verwinden.

Ein Zug: Doppelkupplung

Die Krafteinteilung des neuesten Sternen-Supersportlers übernimmt ein Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe. Diese wird zur Optimierung der Gewichtsverteilung in Transaxle-Bauweise montiert, sitzt also im Heck des Wagens. Das Getriebe wurde von Getrag unter massiver Unterstützung von Mercedes-Ingenieuren entwickelt und kommt in dieser Ausführung auch im Ferrari California zum Einsatz. Auf Landstraße und Race Track gibt sich das Räderwerk keine Blöße: Ohne Zugkraftunterbrechungen und spürbare Schaltvorgänge sind wir souverän unterwegs. Beim Cruisen reicht uns das per Drehregler anwählbare Spritspar-Fahrprogramm "C" (Controlled Efficiency). Über die Einstellungen "Sport" und "Sport Plus" geht es zu "Manuell". Mit gut greifbaren Metall-Wippen lassen sich hier die Gänge einlegen. Die letzten drei Programme sind mit einer Zwischengasfunktion versehen. Laut AMG sind ultrakurze Schaltvorgänge in minimal 100 Millisekunden drin. Ferner ist eine mechanische Differenzialsperre in das Getriebegehäuse integriert, was der schon eingangs erwähnten hervorragenden Traktion des Flügeltürers zugutekommt.