Über die Abschaffung des Standardantriebs und den Verlust des echten Allradantriebs

Blind vorausschauend

Weil seit Kurzem auch der Quermotor mit Vorderradantrieb zum Modellprogramm gehört, waren auch die Daimler-Ingenieure erstmals gezwungen, einen automatisch zuschaltenden Antrieb zu entwickeln. Er soll zunächst den kommenden Mercedes CLA beflügeln helfen. Anlass für eine kritische Betrachtung

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erstmals mit Lamellen: die neue 4MATIC von Mercedes-Benz 14 Bilder
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Von
  • Florian Pillau
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München, 18. Dezember 2012 – Mercedes-Benz hatte bisher (mit wenigen anderen Herstellern) eine Sonderstellung bei Allradantrieben: Die Stuttgarter konnten ihre 4MATIC genannte Technik immer aus dem Standardantrieb entwickeln – mit dem Vorteil, dass ganz von selbst echte permanente Allradantriebe dabei herauskamen. Laut Tests der Publikumsfachpresse gehörten sie immer zum Besten in ihren jeweiligen Klassen. Weil seit Kurzem der Quermotor mit Vorderradantrieb zum Modellprogramm gehört, waren die Daimler-Ingenieure erstmals gezwungen, einen automatisch zuschaltenden Antrieb zu entwickeln. Er soll zunächst den kommenden Mercedes CLA beflügeln helfen. Anlass genug für eine kritische Betrachtung.

Echt oder automatisch

Warum steht da oben "echte" permanente Allradantriebe? Weil heute jeder Hersteller jeden Allradantrieb als "permanent" bezeichnet, wenn es nicht gerade ein zuschaltbarer ist. Aber davon gibt es ja kaum mehr welche. Um den Unterschied weiter zu verwischen, fasst man beide Systeme auch gern unter demselben Markennamen zusammen. So firmieren bei Audi der echte, permanente Allradantrieb mit mittlerem Torsendifferenzial und der automatisch zuschaltende mit Haldexkupplung unter dem Label "quattro". Bei Mercedes passiert nun erstmals das Gleiche: Ein automatischer Allradantrieb segelt nun unter der Flagge "4MATIC". Ob die Autobauer glauben, aus Marketinggründen ihre Kunden für dumm verkaufen zu müssen? Oder wollen sie ihnen nur nicht zu viel Information zumuten, nach dem Motto: "Hauptsache, es funktioniert, mehr wollen wir doch gar nicht wissen"? Sicher ist jedenfalls, dass man ihren typischen, bauartbedingten Nachteilen mit geballter Ingenieursleistung zu begegnen versucht. Zu einem echten permanenten Allradantrieb werden sie weder in Sachen Kraftverteilung noch in der Transparenz ihrer Fahrdynamik aufschließen können. Die Gründe erschließen sich leicht:

Differenzialsimulation und Abschaltung

Gezwungen von quer eingebauten Motoren mit Vorderradantrieb benötigt man für die Kardanwelle zum hinteren Differenzial eine Kraftumlenkung um 90 Grad. Da hier durch Reibung Energie verloren geht, sobald man die Hinterachse antreibt, lässt man die Kardanwelle nach hinten normalerweise leer mitlaufen und zweigt von ihr per aktiver (z.B. Jeep-Gerotor- oder frühere Haldex-Generationen) oder passiver Lamellenkupplung mit elektromotorischer, elektromagnetischer oder elektrohydraulischer Betätigung nur Kraft in das hintere Differenzial ab, wenn auch die Hinterräder angetrieben werden sollen. (Von der nicht steuerbaren Viskokupplung soll hier nicht die Rede sein). Die neue 4MATIC arbeitet mit einer integrierten Ölpumpe, die den Druck für die Kupplungsbetätigung laufend erzeugt. Ein Ventil steuert den Druck, der über einen Ringkolben auf das Lamellenpaket wirkt. Man benötigt also nur noch ein Elektronenhirn und Sensoren.

Das Einzige, was man bei dem Aufwand spart, ist ein Differenzial und eine Differenzialsperre: Beides wird durch die mehr oder weniger geschlossene Lamellenkupplung simuliert. Doch auch damit handelt man sich Probleme ein: Reibung erzeugt nunmal Hitze und wenn die zu groß ist, schaltet sich das Ganze sicherheitshalber ab – oder zumindest in einen weniger effektiven Modus um. Die Zulieferer legen deshalb in ihren Produktbeschreibungen auch großen Wert auf die Überhitzungssicherheit ihrer Bauteile, Magna preist seine Dynamax-Lamellenkupplung mit den Worten: "Die hohe thermische Belastbarkeit hilft, eine Abschaltung infolge Überhitzung durch Bergauffahren oder Anhängerbetrieb zu vermeiden". Ausgerechnet, wenn ich den Allradantrieb wirklich brauche, muss ich also mit einer Abschaltung rechnen? Wer braucht eigentlich ein Spielzeug statt eines Fahrzeugs? Mit einem Differenzial anstelle der Kupplung könnte so etwas gar nicht erst passieren.

Nicht nur für den Wald

Früher war der Nachteil einer automatischen Zuschaltung mit aktiver Lamellenkupplung offenkundig: Ein verzögerter Krafteinsatz aufgrund der nötigen Drehzahldifferenz. Im Gelände konnte das dazu führen, dass sich die primären Antriebsräder eingegraben haben, bevor die zugeschalteten genügend Schub brachten – und die Fuhre feststeckte. Oder dass an einem schräg befahrenen Steilhang die Vorderachse bereits talwärts abschmierte, bevor die Kraft hinten ankam. Das führte unter anderem zur Entwicklung der vierten Haldex-Generation, die deshalb von einer aktiven zu einer passiven Kupplung umgebaut wurde. Solche Probleme sind heute weitgehend Geschichte und waren eh nur für Waldbesitzer interessant. Heute sind zudem die Ansprüche an Fahrdynamik und Sicherheit auf Asphalt deutlich gestiegen.

Mercedes-Benz schreibt: "Für die vollvariable Momentenverteilung sorgt die in das Hinterachsgetriebe integrierte, elektrohydraulisch betätigte Lamellenkupplung. Grundsätzliches Prinzip: Ist die Lamellenkupplung offen, treibt fast ausschließlich die Vorderachse das Fahrzeug an. Bei geschlossener Kupplung kommt die Hinterachse ins Spiel. Allerdings können die Antriebsmomente situations­abhängig vollvariabel zwischen Vorder- und Hinterachse verschoben werden (torque on demand)". Das wird einerseits mithilfe von Schlupfsensoren erkannt, andererseits kann die Kupplung gewissermaßen vorausschauend geschlossen werden, um den Schlupf gar nicht erst entstehen zu lassen. Dritte Möglichkeit: Man lässt den Fahrer eingreifen, indem man ihn auf Knopfdruck die Kupplung schließen lässt – bis sie sich ab etwa 15 km/h (je nach Hersteller) wieder automatisch öffnet. In diesem meistens "Lock" genannten Modus kann beiden Achsen zwangsweise je die Hälfte der Antriebsleistung fest zugeteilt, also ein gesperrtes Mitteldifferenzial simuliert werden. Das ist praktisch zum Anfahren am Berg oder aus schwerem Schlamm. Noch ein Argument für eine handvoll Förster, unser Thema ist aber am CLA aufgehängt. Was also passiert auf der Straße – die Hersteller sprechen doch immer von verbesserter Sicherheit?

Alle tun das Gleiche, manchmal sogar BMW

BMW schreibt: "Anders als herkömmliche Allradsysteme, die lediglich auf bereits durchdrehende Räder reagieren, kann xDrive anhand der vom DSC (der Fahrdynamikregelung) zur Verfügung gestellten Daten jede Tendenz zum Über- oder Untersteuern bereits frühzeitig erkennen und ihr durch eine veränderte Verteilung des Antriebsmoments proaktiv entgegenwirken. Droht das Fahrzeug beispielsweise über die Vorderräder nach außen zu schieben, wird sofort ein höherer Anteil der Antriebskraft an die Hinterräder geleitet. Ebenso vorausschauend kann auch dem Ausbrechen der Hinterräder entgegengewirkt werden, indem überschüssige Kraft an die Vorderachse gelenkt wird." Magna beliefert Kia (für Sportage und Sorento) mit dem Allradsystem Dynamax™ und schreibt fast wörtlich das Gleiche wie BMW: "Im Gegensatz zu anderen Allradantriebssystemen, die lediglich nachträglich auf Bedingungen reagieren können, ist Dynamax™ in der Lage, die Anforderungen an das Allradsystem laufend zu prognostizieren. Die intelligente Steuerung von Dynamax™ führt eine ständige Analyse der Daten aus der Fahrzeugsteuerung durch. Durch die elektrohydraulisch aktuierte Lamellenkupplung ist die hohe Steuerbarkeit des Allradsystems gegeben. Dieses Systemverhalten ist für den Fahrer vollständig transparent". Man benutzt also in beiden Fällen und genau wie fast alle Hersteller die gezielte Verteilung der Antriebsleistung geschickt zur Stabilisierung des Fahrzeugs.

Blind vorausschauend

Genau dieser Effekt aber kann in Form sogenannter Gierwinkelimpulse das Fahrzeug aber auch vollkommen ungewollt destabilisieren. Stellen Sie sich einen sonnigen Wintertag vor mit trockener Straße und vom Antrieb nicht vorhersehbarem Glatteis in einer schattigen Kurve. "Proaktiv" geht hier rein gar nichts – der Antrieb wird also reagieren, wenn das Fahrzeug auf dem Eis instabil wird – und kann dann die Lage durch seinen blitzschnellen Einsatz noch verschlimmern. Denn sobald die Räder zur Seitenkraft auch noch Antriebsleistung übertragen müssen, kann der Wagen ausbrechen.

Nicht nur hier zeigen sich mögliche Grenzen der Regelung: Die deutsche Geländewagenzeitschrift Zeitschrift OFF ROAD hat in ihrer Ausgabe 7/10 in einem Zugfahrzeugtest demonstriert, wie ein Gespann mit einem BMW X5 auf simuliertem Schnee ruckartig einknickt. Der xDrive des Zugfahrzeugs ist offenbar nicht in der Lage, diesen fahrdynamischen Zustand zu beherrschen. Das muss nicht heißen, dass dieses Problem allein vom Allradantrieb hervorgerufen wird oder gar systemimmanent wäre, immerhin ist es so bei keinem der anderen automatisch zuschaltenden Antriebe im Test (von VW und Kia) aufgetreten. Aber es macht schon etwas nachdenklich, wenn es ausgerechnet bei dem Fahrzeug auftritt, dessen Hersteller sich so laut für die Beherrschung der Fahrdynamik rühmt. (Die anderen Kandidaten hießen: VW T5 4MOTION 2,0 TDI, BMW X5 40d, Jeep Wrangler Unlimited 2,8 CRD, Kia Sorento 2,2 CRdi, Toyota LandCruiser V8 D-4D, der Anhänger ein Airstream mit 2,4 t Leergewicht). Hier das Video, die Szene mit dem BMW X5 ist fast ganz am Ende. Selbstverständlich versucht man so etwas mit geballtem Hirnschmalz zu vermeiden, doch stößt man dabei offenbar an Grenzen.

Interessantes Zwischending

xDrive ist überhaupt ein interessantes Zwischending: Eigentlich hätte BMW ja bequem einen ganz normalen, permanenten Allradantrieb in seine SUVs einbauen können, weil sie mit ihrem Längsmotor die richtige Voraussetzung mitbringen. BMW hat aber auf ein zentrales Differenzial im klassischen Verteilergetriebe verzichtet, um alle Freiheitsgrade nutzen zu können, welche die beliebig steuerbare Lamellenkupplung bietet. Damit lässt sich in gewissen Grenzen Torque Vectoring betreiben, das Fahrzeug also mithilfe der Kraftverteilung leichter in Kurven hinein oder aus Kurven heraus lenken zu helfen.

Herbeikonstruierter µ-Sprung

Man kann diese mutige Entscheidung für eine Kupplung anstelle des Differenzials als visionär bezeichnen. Die anderen Hersteller verkaufen die unvermeidlichen Nachteile des automatischen Allradantriebs geschickt als Vorteile, indem sie herausstreichen, wie intelligent und effizient dieser Antrieb ist, weil er nur bedarfsweise aktiv ist und sein Elektronenhirn in Sekundenbruchteilen die Kraft verteilen kann. Gewisse Pressestellen sind sich nicht einmal zu schade, den Eindruck zu erwecken, er könnte mehr als 50 Prozent der Kraft an die sekundäre Antriebsachse verteilen, obwohl das ohne Differenzial technisch gar nicht möglich ist. In der Pressemappe zum ALL4-Allradantriebs des MINI steht dennoch: "In normalen Fahrsituationen werden bis zu 50 Prozent des Antriebsmoments an die Hinterachse geleitet, in Extremsituationen, zum Beispiel auf Eis oder Schnee, können es bis zu 100 Prozent sein."

Was nicht gesagt wird: Unter der "Extremsituation" versteht die Presseabteilung folgende gedanklich herbeikonstruierte Konstellation: Die Vorderräder stehen auf Eis und können daher keine Kraft übertragen. Die gesamte Antriebsleistung wird von der Hinterrädern übernommen, die in diesem theoretischen Denkmodell auf trockenem Asphalt stehen. Eine bewusste Irreführung, die angesichts der beachtlichen Ingenieursleistung die im ALL4 steckt, eigentlich nicht nötig wäre. Ganz ähnlich irreführend ist die Pressemappe zur 4MATIC des CLA. Hier steht zunächst ganz richtig: "Im Normalfall können die Antriebsmomente von 100:0 bis 50:50 zwischen Vorder- und Hinterachse eingeregelt werden." Aber dann: "In bestimmten Fahrsituationen, wie beim Überfahren von µ-Sprung, können aber auch höhere Momente an der Hinterachse zur Vermeidung von instabilen Fahrzuständen eingeregelt werden. Hier einige Beispiele für die Momentenverteilung (VA:HA in Prozent, ungefähre Werte): Vollastbeschleunigung bei ca. 50 km/h 60:40, Dynamische Kurvenfahrt unter Last 50:50, Überfahren von µ-Sprung 10:90, Starke Bremsung mit ABS-Eingriff 100:00." Haben Sie's gemerkt? "µ-Sprung", ein Begriff aus der Getriebetechnik, bedeutet hier das gleiche wie "Extremsituationen" bei BMW. Wobei die Ingenieure aus Stuttgart etwas realistischer sind und den Rädern auf dem Glatteis immerhin noch eine Kraftübertragung von 10 Prozent zugestehen. Dennoch bleibt das Ganze natürlich ein herbeikonstruiertes Denkmodell, das einen unguten Nachgeschmack hinterlässt.

Was uns verloren geht

Ganz anders in einem permanenten Allradantrieb: Die Kraft verläuft ohne Umlenkung durchs Getriebe über ein mittleres in das hintere und das vordere Differenzial. Alle Räder teilen sich die Antriebskraft gerecht zu je 25 Prozent. Ungerecht wird es erst, sobald eine Achse zu schlupfen beginnt. Dann muss das mittlere Differenzial bremsen, was man mit vorgespannten Lamellen (in der Mercedes 4MATIC mit einer Grundbremswirkung von 50 Nm), einer parallel wirkenden Viskokupplung (Mitsubishi) oder einer mechanischen Selbsthemmung wie beim Torsen-Differenzial ohne elektronische Steuerung (Toyota, Audi) in den Griff bekommt. (Das gleiche Prinzip kann man natürlich auch achsweise anwenden, wenn gewünscht). Entscheidend ist jedoch: Diese Antriebsart kennt weder Störungen der Fahrdynamik durch einen sogenannten Gierwinkelimpuls noch muss es geregelt ein- und ausgeschaltet werden. Die Kraft steht eben "permanent" zur Verfügung. Die Fahrdynamik bleibt dadurch für den Fahrer immer transparent, unerwünschte Einflüsse oder anderes situationswidrige Handeln unterbleibt. Und nur mit einem Differenzial zwischen den Achsen ist es tatsächlich möglich, mehr als 50 Prozent der Leistung an eine der beiden Achsen zu transferieren. xDrive muss also außen vor bleiben, trotz der primär angetriebenen hinteren Achse, quattro ist drin, aber nur, sofern es sich um die Version ohne Haldex-Kupplung handelt. Beim Quattro-Allradantrieb erreicht das Torsendifferenzial eine bis zu 70:30-prozentige Kraftverteilung (das dahinter angeordnete Planetenradgetriebe zur Verteilung der Momente soll hier genauso wenig Thema sein, wie andere Tricks des Torque Vectoring, etwa das Audi Sportdifferenzial oder BMWs Dynamic Performance Control). Ach, ja, und im entscheidenenden Moment kann und muss sich so ein mechanisches Differenzial natürlich auch nicht abschalten. Ich finde den drohenden Verlust dieser ebenso einfachen wie genialen Technik schade. Nicht, weil sie schon über 100 Jahre alt ist, sondern, weil wir nichts besseres haben.

Standardantrieb und Geschmacksverstärker

Die Abwendung vom Standardantrieb ist also nicht nur im Bereich der zweiradgetriebenen Autos ein fahrdynamischer Sündenfall. Im Bereich der Allradtechnik führt er zu größeren Komplikationen, geringerem Nutzen und einer eigenwilligen Fahrdynamik. Aufschlussreich, dass man uns das partout als Fortschritt verkaufen will. Bemerkenswert ist auch das Hurra, mit dem die Ingenieure bei BMW völlig ohne Not auf den Zug der Fahrdynamikregelung per Lamellenkupplung aufgesprungen sind. Sie hätten ja ganz einfach weiterhin beim technisch solideren und fahrdynamisch vernünftigeren permanenten Allrad bleiben können. Aber wer sich dermaßen der Freude am Fahren verschrieben hat, muss vielleicht manchmal extremere Dinge tun und fahrdynamische Geschmacksverstärker ins Auto einbauen. Dass sich dabei wirklich großer Fahrspaß einstellen kann, beweist der ansonsten eigentlich überflüssige BMW X6, der zusätzlich zu den Tricks des xDrive alle weiteren Register des gepflegten Torque Vectoring zieht. Bei so einem Auto verstehen wir, warum die Kunden die Nähe von Genie und Wahnsinn so schätzen. Aber das ist ebenso eine Frage des Geschmacks wie ein Geschmacksverstärker und außerdem eine ganz andere Geschichte ...