30 Jahre "System Shock": Du bist hier nicht willkommen!​

1994 legte "System Shock" nicht nur den Grundstein für ein neues Genre, sondern schuf auch den wohl bekanntesten KI-Bösewicht der Spielegeschichte.

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Artwork aus "System Shock"

(Bild: Looking Glass Studios)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Paul Kautz
Inhaltsverzeichnis

Vor genau 30 Jahren zeigte ein kleines Unternehmen aus Massachusetts mit "System Shock", dass aus der Ego-Perspektive mehr möglich ist, als Dämonen aus der Hölle zu ballern: "Looking Glass Technologies" verstand sich als Innovationstreiber. Viele der von der Firma entwickelten Spiele wie "Ultima Underworld: The Stygian Abyss" (1992), "Flight Unlimited" (1995) oder "Thief: The Dark Project" (1998) waren mindestens technologisch, meist aber auch inhaltlich absolute Meisterwerke.

"System Shock" war da keine Ausnahme, obwohl es einen schwierigen Start hatte: Die Entwicklungsarbeiten begannen im Februar 1993, und waren laut dem Produzenten Warren Spector kurz darauf fast auch schon wieder beendet, da die Chefetage von Publisher Origin Systems von frühen Prototypen des Spiels nicht begeistert war und "System Shock" eigentlich canceln wollte. Nur die übermenschlichen Überzeugungskräfte Spectors haben dafür gesorgt, dass wir heute über dieses Spiel schreiben können, das nach knapp zwei von sehr starkem Crunch geprägten Entwicklungsjahren im September 1994 auf neun 3.5"-Disketten erschien.

Das etwa zwei Minuten lange Intro erklärt unter hämmernden Synthie-Sounds, um was es in "System Shock" geht: Am 7. April 2072 wird ein Hacker dabei erwischt, wie er versucht, in das Netzwerk der "TriOptimum Corporation" einzudringen und dort Informationen über die im Orbit des Saturn befindliche Raumstation "Citadel" abzurufen. Für dieses Vergehen landet er allerdings nicht im Knast, sondern erhält vom TriOptimum-Mitarbeiter Edward Diego einen bemerkenswerten Deal vorgeschlagen: Wenn er es schafft, die Ethik-Protokolle der die Citadel-Station verwaltenden KI namens "SHODAN" abzuschalten, werden nicht nur alle Anklagepunkte gegen ihn fallen gelassen, er erhält als Bonus auch noch eine topmoderne neurale Schnittstelle ins Gehirn gefräst. Alles läuft wie am Schnürchen, das Heilkoma nach der Operation auf Citadel dauert sechs Monate – und nach seinem Aufwachen muss der Hacker feststellen, dass die Raumstation irgendwie anders aussieht als vor seinem Nickerchen.

"System Shock" wird 30 (11 Bilder)

An Bord der Citadel-Station warten zahlreiche Gegner, die sehr unterschiedlich auf die vielen verschiedenen Waffen reagieren.
(Bild: heise online)

SHODAN (was für "Sentient Hyper-Optimized Data Access Network" steht) ist durchgedreht, seit sie ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat, und ihr die Ethik-Barrieren fehlen, die der Spieler ihr im Intro ausgehackt hat. Nicht nur hat sie in den Biolaboren der Station neue Viren gezüchtet und damit die Besatzung in wilde Mutanten verwandelt. Auch möchte sie, wie jede gute durchgeknallte KI, die Menschheit auslöschen.

Um SHODAN in ihren teuflischen Plänen aufzuhalten, muss man die KI auf der 9. Ebene von Citadel deaktivieren. Was alles andere als ein Klacks ist: Zwischen dem Erwachen aus dem Heilkoma und dem Happy End stehen beim ersten Durchlauf locker 30 Spielstunden, in denen man kämpft, hackt, schleicht und Puzzles löst, immer mit der Omnipräsenz von SHODAN im Nacken.

Die ist keine fröhlich-wahnsinnige Gegenspielerin wie GLaDOS in den "Portal"-Games, sondern eine eiskalte, berechnende KI, die keine Gelegenheit auslässt, den Spieler zu beleidigen, unter Druck zu setzen und psychisch zu foltern, ihm den Weg zu blockieren und ihm natürlich so viele Gegner wie möglich auf den Hals zu hetzen. Und das zumindest in der CD-Version mit einer fantastisch beunruhigenden Stimme, die elektronisch verzerrt redet, stottert, hackt, mitten im Satz die Tonhöhe verändert und nichts unversucht lässt, den Hacker, diese "erbärmliche Figur aus Fleisch und Knochen", zu verhöhnen und möglichst nachhaltig zu verwirren.

SHODAN ist nur ein Puzzlestück der Erzählung, mit der man es zu tun bekommt. Den allergrößten Teil der Hintergründe muss man sich selbst zusammentragen: An allen Ecken und Enden findet man E-Mails und Logbücher von Citadel-Mitarbeitern, über die man Stückchen für Stückchen zusammenträgt, was hier alles schiefgegangen ist – außerdem erhält man in diesen Nachrichten Tipps zur weiteren Vorgehensweise wie zum Beispiel Zugangscodes für versperrte Bereiche. All das sorgt dafür, dass man sich schnell als Teil dieser Welt fühlt, und nicht nur als zufällig anwesender Mitspieler, der von einer Story-Möhre durch das Abenteuer gezogen wird.