30 Jahre "System Shock": Du bist hier nicht willkommen!​

Seite 2: Was spiele ich hier eigentlich?

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Wie es für eine immersive Simulation mittlerweile sehr typisch ist, lässt sich auch schon "System Shock" nur sehr schwer in ein fixes Genre-Korsett stopfen. Es hat das Kunststück geschafft, seinerzeit nicht als "Doom-Klon" gebrandmarkt zu werden. Was vor allem daran liegen dürfte, dass es zwar wie ein typischer Mitt-90er-Shooter aussehen mag, aber alles andere als ein typischer Mitt-90er-Shooter ist. Aber was ist es denn nun? Ein Actionspiel? Ein Rollenspiel? Ein Horrorspiel? Ein Adventure?

Die Antwort auf diese Fragen lautet: ja. Denn direkt zum Spielstart hat man hier die Möglichkeit, sich das Abenteuer erstaunlich detailliert maßzuschneidern: In den leicht kryptisch benannten Bereichen "Kampf", "Auftrag", "Rätsel" und "Cyber" hat man jeweils die Wahl unter vier Schwierigkeitsgraden, von 0 bis 3 – was dramatische Auswirkungen auf das Spielerlebnis hat. Auf der niedrigsten Stufe greifen Gegner niemals zuerst an und gehen nach nur einem Treffer drauf. Puzzles werden automatisch gelöst und im Cyberspace hat man alle Zeit der Welt. Kurbelt man die Herausforderung dagegen komplett nach oben, bekommt man es auf einmal mit extrem aggressiven und widerstandsfähigen Feinden zu tun, die Puzzles sind echte Gehirnverknoter, der Cyberspace ist streng bewacht – und das komplette Spiel muss in nur sieben Stunden gemeistert werden!

Eine komplett wahnsinnige Herausforderung also, aber perfekt für den "System Shock"-Profi, der der Meinung ist, das Spiel in- und auswendig zu kennen, was dem Wiederspielwert natürlich enorm zugutekommt. Und das Gute ist: Man darf sich frei zwischen diesen beiden Extremen austoben, was damals sehr innovativ war.

Citadel Station ist in neun Sektoren unterteilt, von der Krankenstation bis zur Kommandoebene. Anders als zum Beispiel im in einzelne Levels unterteilten "Doom" ist hier alles logisch miteinander verbunden, aber dadurch auch überwältigend groß und verwirrend. Nicht alles ist direkt oder über einen Fahrstuhl erreichbar, es gibt viele Geheimgänge, Versorgungsschächte oder Zwischengeschosse, die man erstmal finden muss – gut, dass es eine jederzeit aufrufbare Übersichtskarte gibt.

Die wichtigsten Werkzeuge zum Vorwärtskommen sind aber Zugangskarten und Codes für die vielen, vielen Türen, die einem im Laufe des Abenteuers den Weg blockieren. Manche Karten liegen in der Gegend herum, manche in Schränken oder Aktentaschen, einige Codes erhält man aus Logbüchern, andere sind in Blut an die Wand geschmiert, einige Türen sind kaputt und müssen erst repariert werden, andere lassen sich nur über einen Zugang im Cyberspace öffnen. Fun fact für Fans von nachfolgenden immersiven Simulationen wie "System Shock 2", "Deus Ex", "BioShock" oder "Prey": Die Zahlenfolge "451" als Passwort nahm hier ihren Anfang, und war laut Warren Spector schlicht der damalige Zugangscode zu den Büros von Looking Glass, der sich dann irgendwann als Insiderwitz verselbständigt hat.

Apropos Cyberspace: Das ist ein gesonderter Spielteil, der nur über spezielle Terminals betreten werden kann. Macht man das, verwandelt sich die aufwändig texturierte Raumstation auf einmal in ein "Tron"-ähnliches Drahtgittergebilde, durch das man frei herumschwebt, um Datenfragmente zu finden oder spezielle Hacking-Aufgaben zu lösen, während man von SHODANs Verteidigungsprogrammen angegriffen wird. Diese Umsetzung des Cyberspace-Konzeptes, das auf den Science-Fiction-Autor William Gibson zurückgeht, ist fraglos innovativ, aber gerade aus heutiger Sicht sehr abstrakt, unübersichtlich und gewöhnungsbedürftig zu spielen.

Ehrlicherweise gilt das auch für das komplette Spiel. Das war niemals so zugänglich wie zum Beispiel ein "Doom", das wohl jeder sofort kapiert. "System Shock" ist langsam, anspruchsvoll und sperrig, das HUD des Spiels ist vollgepackt mit krümeligen Mini-Icons, deren Funktionen man verinnerlichen muss. Das Allererste, was man nach dem Spielstart zu sehen bekommt, ist eine Ansammlung von roten Kästen, die einem den Inhalt des Bildschirms erklären – insgesamt sind das 22! Interface-Designer Marc LeBlanc erzählte in einem Interview im Jahr 2011, dass er die Bedienung des Spiels im Nachhinein bereut. Er nannte das "the Microsoft Word school of user interface".

Das ist aber natürlich der moderne Blick auf das Spiel – seinerzeit hat das kaum jemanden gestört. Im Gegenteil, man war begeistert darüber, wie viele Bewegungsmöglichkeiten einem das Spiel gab: In "System Shock" kann man gehen und sprinten, nach oben und unten schauen, sich um Ecken lehnen, springen und auch auf dem Boden robben. Genau wie in den "Ultima Underworld"-Spielen bewegt sich die Maus unabhängig vom Spieler, wodurch man frei mit der Umgebung interagieren kann. Dank der fortgeschrittenen Physikengine des späteren Xbox-Vaters Seamus Blackley verfügen alle Objekte in "System Shock" über spezifische Eigenschaften wie Gewicht oder Trägheit, geworfene Gegenstände purzeln einigermaßen glaubwürdig durch die Gegend, schräge Flächen haben einen spürbaren Einfluss auf die Bewegungen der Spielfigur. Aus heutiger Sicht mag das alles putzig wirken, aber im Jahr 1994 war das nicht weniger als spektakulär! Kein Wunder also, dass die Spieletester damals durch die Bank begeistert waren.

Gerade mal drei Monate nach der Ursprungsveröffentlichung brachte Looking Glass eine erweiterte CD-Version von "System Shock" auf den Markt – und Warren Spector äußerte später großes Bedauern darüber, dass jemals eine andere Fassung erschien. Denn die CD-Variante war nicht einfach eine Art "Director’s Cut", sondern schlicht das sehr viel bessere Spiel: Das lag erstaunlicherweise weniger an der verbesserten Grafik, die mit maximal vierfach erhöhter Auflösung deutlich mehr Details zeigte, sondern vor allem an der durchgehenden Sprachausgabe, die mit gesprochenen Audiologs und dem elektronisch verzerrten Irrsinns-Stakkato von SHODAN aus dem Quasi-Stummfilm jetzt ein atmosphärisch drückend intensives Horror-Abenteuer machte. Kein Wunder, dass einige Spielemagazine für diese Fassung ihre Wertungen noch einmal nach oben korrigierten.

All die Begeisterung machte "System Shock" aber trotzdem nicht zum Megahit: Das Spiel verkaufte sich knapp 200.000 Mal, was für Looking-Glass-Verhältnisse nicht schlecht war, aber angesichts der hohen Entwicklungskosten nur ganz knapp am Flop vorbeischrammte. Trotzdem folgten ein exzellenter zweiter Teil (über den wir hier bereits geschrieben haben), geistige Nachfolger wie die "BioShock"-Serie, eine hervorragend auf moderne Systeme angepasste "Enhanced Edition", sowie ein komplettes Remake im Jahr 2023.

Der Geist von "System Shock" lebt also noch bis heute weiter, wofür man sehr dankbar sein muss. Dieses Spiel erschuf den "Thinking Man’s Shooter"; keine typische Ballerei, sondern eine aufregende Mischung aus Action, Adventure und Rollenspiel. Wenn man es heute wieder oder gar zum ersten Mal spielt, stößt man unweigerlich auf Anachronismen: Schwierig zu identifizierende Objekte in den krümeligen Texturen, wenig bis gar keine Führung, Übersichtsprobleme, fummelige Bedienung. Aber wenn man dem Spiel eine Chance gibt, und das innovative System der variablen Schwierigkeitsgrade kommt einem da so weit entgegen, wie ein Mitt-90er-Spiel es nur kann, dann erhält man ein intensives Erlebnis, das einen heute noch genauso in der Welt von Citadel versinken lässt wie vor 30 Jahren.

(dahe)