Arbeitskämpfe und Sozialpartnerschaft – IG Metall wird 75 Jahre alt

Nach Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg musste sich die IG Metall neu erfinden. Sie steht aktuell vor gewaltigen Herausforderungen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 26 Kommentare lesen

(Bild: Preechar Bowonkitwanchai / Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • dpa
Inhaltsverzeichnis

Auf eine große Feier zu ihrer Gründung vor 75 Jahren will die IG Metall verzichten – sieht sich doch Deutschlands größte und mächtigste Einzelgewerkschaft in einer weit älteren Tradition, die bis tief ins deutsche Kaiserreich zurückreicht. Aber am 1. September 1949 – wenige Tage nach der ersten Bundestagswahl und noch vor der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler – musste sich die Gewerkschaft neu erfinden. Heute gehört sie zu den Kraftzentren der Bundesrepublik und hat sich in schwierigen Zeiten für die Tarifverhandlungen im Herbst einiges vorgenommen.

Unter der national-sozialistischen Zwangsherrschaft zwischen 1933 und 1945 hatten die schnell gleichgeschalteten Gewerkschaften ihre Errungenschaften aus der Weimarer Zeit wieder verloren, viele ihrer Mitglieder wurden von den Nazis verfolgt und umgebracht. "Der Kampf gegen Faschismus und Rassismus und für Demokratie ist Teil unserer DNA. Gesellschaftliche Demokratie und wirtschaftliche Demokratie gehen Hand in Hand", sagt die heutige Vorsitzende Christiane Benner.

Nach Kriegsende etablierten sich zwar umgehend Arbeiterräte in den Betrieben, die Alliierten verhinderten in ihren Besatzungszonen jedoch die schnelle Neugründung von landesweiten Gewerkschaften. Insbesondere ein Zusammenschluss mit dem "Freien Deutschen Gewerkschaftsbund" (FDGB) aus der sowjetischen Besatzungszone kam nicht infrage, wie die Historikerin Helga Grebing in ihrem Standardwerk zur deutschen Arbeiterbewegung festgehalten hat.

Ebenso wenig ließ sich die Idee einer allgemeinen Gewerkschaft für sämtliche Arbeitnehmer aller Branchen durchsetzen, wie sie der spätere DGB-Chef Hans Böckler angestrebt hatte. Vor allem die Briten fürchteten eine undemokratische Machtposition bei einer solchen Struktur. Letztlich wurde im Oktober 1949 in München der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als Zusammenschluss von 16 "Industriegewerkschaften" gegründet.

Diese Einzelgewerkschaften mit der starken IG Metall aus Frankfurt an der Spitze blieben unabhängig und bestimmten ihre Tarifpolitik selbst. Der von ihnen finanzierte Dachverband DGB übernahm insbesondere die politische Interessenvertretung der Arbeiterschaft – ohne die in Deutschland sogar gesetzlich verbotene Möglichkeit, für politische Streiks die Massen auf die Straßen zu bringen.

Den Wert der Tarifautonomie, dem freien Aushandeln der Arbeitsbedingungen, lobt auch Stefan Wolf, als Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall langjähriger Verhandlungspartner. "Die Tarifautonomie wurde 1918 mit dem Stinnes-Legien-Abkommen institutionalisiert, 1933 von den Nationalsozialisten abgeschafft, 1949 in West-Deutschland wiederbelebt, zudem verfassungsrechtlich garantiert und schließlich 1990 auf Ost-Deutschland erstreckt", sagt Wolf. Seit Jahrzehnten trage sie somit zum sozialen Ausgleich in einer freien Marktwirtschaft bei.

Wie die anderen DGB-Gewerkschaften wurde auch die IG Metall 1949 als Einheitsgewerkschaft – also ohne parteipolitische oder konfessionelle Bindung – gegründet. Montan-Mitbestimmung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, mehr Urlaub, mehr Geld und immer wieder der Kampf um kürzere Arbeitszeiten waren die bestimmenden Themen in der jungen Bundesrepublik. Teilweise kam es harten Arbeitskämpfen. Meilensteine waren die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (1957), die Fünf-Tage-Woche und schließlich die 35-Stunden-Woche, die erst 1995 vollständig umgesetzt war und in vielen anderen Wirtschaftszweigen bis heute nicht gilt.

Nach den Gründungsvorsitzenden Walter Freitag und Hans Brümmer bestimmten bekannte Gewerkschafter wie Otto Brenner, Franz Steinkühler oder Berthold Huber die Geschicke der Organisation. Seit dem vergangenen Oktober steht mit Christiane Benner erstmals eine Frau an der Spitze des einstigen Männerladens IG Metall.

Die Gewerkschaft hat längst akzeptiert, dass die wichtigen Industriesparten Auto, Maschinenbau oder Stahl vor gewaltigen Umbrüchen stehen, wenn digital und klimaneutral produziert werden muss. Aber die Chefin Benner betont: "Was sich dabei nicht geändert hat, ist unser Einsatz, unser Einstehen für die Beschäftigten. Sie brauchen Sicherheit und eine klare Perspektive wie ihr Arbeitsplatz in Zukunft aussieht, in einer klimaneutralen, digitalisierten Industrie. Für diese klare Perspektive brauchen wir jetzt Investitionen, und zwar im großen Stil, von Unternehmen und der Politik."

Ihre stärksten Truppen haben die Metaller in der Autoindustrie und reden besonders beim Branchenriesen Volkswagen auch betrieblich ein gewichtiges Wort mit. Am Stammsitz Wolfsburg hat die IG Metall ihre mit Abstand größte Geschäftsstelle, vertritt nach etlichen Fusionen aber auch IT-Fachkräfte sowie Beschäftigte der Textil- oder der Holzindustrie. Seit 2011 hat die größte deutsche Einzelgewerkschaft den Mitgliederschwund nahezu gestoppt und zählte zum Beginn dieses Jahres exakt 2.136.326 Menschen. Deren Beiträge summierten sich 2023 auf den Rekordwert von 620 Millionen Euro im Jahr. "Der Mitgliederzulauf in den Betrieben gewährleistet: Unsere Streikkasse ist gut gefüllt", stellt die ebenfalls neue Hauptkassiererin Nadine Boguslawski fest.

Lange Streiks sind selten geworden. Auch beim wichtigsten Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie ist es in den vergangenen Jahren höchstens zu befristeten Warnstreiks gekommen. In die anstehende Tarifrunde für rund 3,9 Millionen Beschäftigte der deutschen Metall- und Elektroindustrie zieht die IG Metall mit einer Forderung nach sieben Prozent mehr Gehalt während die Arbeitszeit nur am Rande eine Rolle spielt. Benner sagt: "Der Einsatz um mehr Einkommen in der anstehenden Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie ist von großer Bedeutung für die Beschäftigten. Sie kämpfen mit den anhaltend hohen Preisen, im Supermarkt, fürs Wohnen, für den täglichen Bedarf. Wir kämpfen gemeinsam mit ihnen für mehr Geld, damit sie sich mehr leisten können."

"Verglichen mit der wirtschaftlichen Lage der Metall- und Elektro-Industrie ist die Forderung der IG Metall deutlich zu hoch", meint hingegen Gesamtmetall-Chef Wolf. Er sieht Deutschland mitten in der De-Industrialisierung und fordert die IG Metall im gemeinsamen Interesse auf, in der aktuellen Tarifrunde maßzuhalten. Zum Jubiläum gratuliert Wolf dem Tarifpartner trotzdem gern: "Es gibt wahrlich angenehmere Dinge, als mit der IG Metall zu verhandeln. Aber am Ende gelingt uns immer ein Kompromiss, der besser und praxisgerechter ist als jedes Gesetz. Herzlichen Glückwunsch zu 75 Jahren, IG Metall!"

In eigener Sache: heise online bei WhatsApp

Keine Tech-News mehr verpassen: heise online auch bei WhatsApp abonnieren!

Wir schicken einmal am Tag die wichtigsten Nachrichten aus der Redaktion.

(emw)