Atomkraft: Sechs Jahrzehnte Strom aus Kernspaltung in Deutschland

Die kommerzielle Nutzung der Atomkraft endet an diesem Wochenende in Deutschland. Ein Rückblick auf 62 Jahre.

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Ende Oktober 1957 nahm in Garching bei München die erste nukleare Anlage in Deutschland ihren Betrieb auf. Als Beginn der kommerziellen Nutzung wird der Betrieb des AKW Kahl seit 1961 gesehen.

(Bild: FRM Garching / TU München)

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Inhaltsverzeichnis

An diesem Samstag werden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. Damit endet nach 62 Jahren die Ära der kommerziellen friedlichen Nutzung der Atomkraft in Deutschland.

Der Entschluss, endgültig aus der Atomkraft auszusteigen, fiel in der damaligen Großen Koalition im Frühjahr 2011, nachdem sich am Atomkraftwerk Fukushima Daiichi infolge eines Seebebens und eines Tsunamis ein Super-GAU ereignet hatte. Am 17. März 2011, eine Woche nach der Katastrophe, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): "Die bisher unbestrittene Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen. Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können."

Ursprünglich sollten nach dem 2011 novellierten Atomgesetz die AKW Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 nur bis Ende 2022 laufen. Doch vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, seiner energiepolitischen Folgen und der damit ungewissen Lage der Stromversorgung in Deutschland vor dem vorigen Winter hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein Machtwort gesprochen, die drei AKW sollten noch bis zum 15. April 2023 am Netz bleiben. Sie hatten zuletzt 6,4 Prozent Anteil an dem in Deutschland erzeugten Strom, zu Hochzeiten Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts betrug der Anteil ungefähr ein Drittel.

Vor 62 Jahren, im Juni 1961, speiste der Versuchsreaktor im bayerischen Kahl als erstes deutsches Atomkraftwerk nach dreieinhalb Jahren Bauzeit Strom in das bundesdeutsche Verbundnetz ein. Der Siedewasserreaktor hatte eine elektrische Leistung von 15 Megawatt (MW). Zuvor hatte die Bundesregierung unter Konrad Adenauer im Oktober 1955 das Ministerium für Atomfragen eingerichtet, Minister wurde Franz Josef Strauß (CSU), der schon ein Jahr darauf zum Verteidigungsministerium wechselte. Das Ministerium für Atomfragen ging 1962 im Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung auf. Ebenfalls 1955 wurde Willi Stoph erster Minister für Atomfragen in der DDR.

Der "atomare Zwiespalt" der Zeit angesichts der Atombombenabwürfe über Japan im Zweiten Weltkrieg und des Kalten Krieges findet 1959 im Godesberger Programm der SPD ihren Ausdruck. Darin heißt es, gewarnt durch die Zerstörungskriege und Barbareien seiner jüngsten Vergangenheit, fürchte der Mensch die eigene Zukunft, "weil in jedem Augenblick an jedem Punkt der Welt durch menschliches Versagen das Chaos der Selbstvernichtung ausgelöst werden kann. Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt".

In Hamburg, Jülich, Geesthacht, Berlin und Karlsruhe wurden Kernforschungszentren installiert, Ende Oktober 1957 ging als erster deutscher Reaktor in Garching der Forschungsreaktor der TU München in Betrieb, der eiförmige Bau wurde 1967 in das Stadtwappen aufgenommen. Das Atomgesetz, auf das sich Merkel im März 2011 bezog, wurde 1959 verkündet, die Rechtsgrundlage für den Bau und den Betrieb von Atomkraftwerken. Damit wurden weltweit erstmals Haftungsfragen geregelt, die bei der friedlichen Nutzung von Atomenergie entstehen können. Mit klaren Rechtsvorschriften sollte der Weg für Atomkraftwerke geebnet werden.

Für diese wurden in der Bundesrepublik zunächst verschiedene Konzepte verfolgt: der schwerwassergekühlte Druckwasserreaktor im Mehrzweckforschungsreaktor Karlsruhe, ein Kugelhaufenreaktor in Jülich, ein Druckröhrenreaktor in Niederaichbach, ein Heißdampfreaktor in Karlstein und ein natriumgekühlter Brutreaktor, der "schnelle Brüter" SNR-300 in Kalkar. Der Kugelhaufenreaktor THTR-300 in Hamm war zwei Jahre lang in kommerziellen Betrieb, der Schnelle Brüter von Kalkar wurde zwar nach rund zwölfjähriger Projektlaufzeit 1985 fertiggestellt, ging aber nie in Betrieb.

Anstelle der unter anderem aus sicherheitstechnischen Aspekten verworfenen Konzepte wurde in der Bundesrepublik die US-amerikanische Leichtwasserreaktor-Technik übernommen, so an den Standorten Kahl, Lingen, Gundremmingen A und Obrigheim. Die Technik wurde in Deutschland weiterentwickelt und kam zum Beispiel ab 1972 in Stade zum Einsatz. In den frühen 1970er-Jahren wurde mit Biblis A die weltweit erste Anlage mit einer Leistung von 1300 MW gebaut.

In der DDR wurden AKW an den Standorten Rheinsberg und Greifswald betrieben. Dabei handelte es sich um sogenannte Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER), Reaktortypen sowjetischer Bauart. In Rheinsberg speiste ab 1966 ein WWER-70 mit einer Leistung von 62 MW ins Netz ein, 1972 folgte ein Druckwasserreaktor (DWR) der ersten Generation in Greifswald. Hier wurden insgesamt vier WWER-440-Blöcke betrieben. Alle Anlagen der ehemaligen DDR wurden 1990 wegen Sicherheitsbedenken vom Netz genommen.

In der Bundesrepublik wurden Atomkraftwerke anders als beispielsweise in Frankreich nicht in Serie gebaut. Erfahrungen aus dem Bau und Betrieb der bereits bestehenden Anlagen konnten so auf die Konzeption der nachfolgenden Kraftwerke übertragen werden. So sei nicht nur das Design fortlaufend verbessert worden, erläutert die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), es seien auch Probleme vermieden worden, die sich aktuell an französischen Anlagen zeigten. Durch den Bau in Serie betreffen Fehler in bestimmten Bauteilen gleich mehrere Anlagen gleichzeitig.

Für den Betrieb von Atomkraftwerken habe sie sicherheitstechnisch bedeutende Ereignisse auch im Ausland betrachtet, betont die GRS. So sei nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 das gefilterte Venting entwickelt worden, wodurch die gefilterte Druckentlastung des Sicherheitsbehälters im Notfall ermöglicht wurde. Ebenso entwickelt wurden Rekombinatoren, mit denen Wasserstoff mit umgebendem Sauerstoff zu Wasser oxidiert wird. Dadurch könnten Wasserstoffexplosionen bei Unfällen mit Kühlungsausfall vermieden werden, wie sie sich im März 2011 in Fukushima ereigneten.

Der Super-GAU von Tschernobyl führte in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR zu größeren Protesten gegen die Atomkraft, wie der BUND rückblickend schildert. Im Westen wuchsen Mitte der 1980er-Jahre die Proteste weiter an, die schon in den Jahren vorher eingesetzt hatten. Im Baden-Württembergischen Wyhl sorgten Mitte der 1970er-Jahre Proteste auch von örtlichen Winzern und Bauern dafür, dass das dortige Bauprojekt eines Atomkraftwerks abgebrochen wurde. 1979 demonstrierten 100.000 Menschen gegen die im niedersächsischen Gorleben geplante Wiederaufbereitungsanlage plus Atommülllager. Im selben Jahr hatte sich im Atomkraftwerk Three Mile Island im US-amerikanischen Harrisburg ein schwerer Unfall mit einer teilweisen Kernschmelze ereignet. 1981 demonstrieren an der Baustelle des Atomkraftwerks Brokdorf in Schleswig-Holstein ebenfalls ungefähr 100.000 Menschen.

500 Atomanlagen und Atomkraftwerke hätten in Deutschland entstehen sollen, schreibt der BUND in seinem Rückblick, so hätten es Pläne in den 1970er-Jahren vorgesehen. Letztlich wurden hierzulande etwas über einhundert kerntechnische Anlagen gebaut. Auch nach Abschalten der drei letzten AKW wird es weiter Reaktoren in Deutschland geben, zu Forschungszwecken. Die abgeschalteten AKW müssen noch zurückgebaut werden, was Jahrzehnte dauern wird. In Lingen im Emsland wird es weiterhin eine Brennelemente-Fabrik geben. Weiter noch ungeklärt ist, wo die Hinterlassenschaft der Atomanlagen endgelagert werden sollen. Die Suche nach einem Endlager wird wohl erst etwa 2050 abgeschlossen sein.

"Das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt", hatte die Bundeskanzlerin im März 2011 gesagt. "Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen." Das wirkt wie eine mögliche Antwort auf das, was wenige Tage vorher der Soziologe Ulrich Beck in einem Zeitungsinterview gesagt hatte: "Der Risikobegriff besagt, dass wir vergangene Erfahrungen zur Grundlage und damit zum Erwartungshorizont künftiger Katastrophen machen. Gerade diese Annahme wird aber in Frage gestellt, weil wir inzwischen wissen, dass uns Katastrophen drohen, die wir noch nicht erfahren haben und die wir vor allem auf keinen Fall erfahren dürfen."

Becks seinerzeit viel diskutiertes Buch "Risikogesellschaft" war 1986 fast gleichzeitig zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erschienen. Damals habe Franz Josef Strauß den Super-GAU in der Ukraine noch als "kommunistische Katastrophe" ausgrenzen können, sagte Beck 25 Jahre später. Nach Fukushima sei die Fiktion dahin, der Westen könne sich in Sicherheit wiegen. "Wir haben es mit Konsequenzen der Erfolge der Moderne und ihrer technischen Phantasie zu tun. Sie stellen uns vor mögliche Katastrophen, die unser begriffliches und institutionelles Fassungsvermögen übersteigen. Trotzdem sind wir zu Entscheidungen gezwungen", sagte Beck.

Länder wie Großbritannien, Frankreich und nun auch Polen haben sich anders entschieden als Deutschland. Angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel und des Bestrebens, von Energieträgern aus Russland unabhängig zu werden, setzen sie auf die Atomkraft. Japan, Schauplatz der jüngsten Atomkatastrophe, hat nur einige Jahre innegehalten. Dort sollen die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert werden, erwogen wird dort auch, neue AKW zu bauen. Derweil hat der eigentliche Rückbau der in Fukushima im März 2011 beschädigten Reaktoren noch nicht begonnen.

(anw)