Mehr Kraft, aber ohne Atom: Wo künftig der Strom herkommen soll

Zum 15. April werden die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz gehen. Kann sich Deutschland das angesichts des stark steigenden Strombedarfs überhaupt leisten?

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Pylon

(Bild: pan demin/Shutterstock.com)

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Es wirkt auf den ersten Blick schon etwas widersprüchlich: Auf der einen Seite gibt es mit der Umstellung des Heizens auf Wärmepumpen und E-Mobilität als Ersatz für Verbrennerautos Pläne, die den Strombedarf in naher Zukunft erheblich steigen lassen. Auf der anderen Seite werden mit den letzten drei Atomkraftwerken Deutschlands zum 15. April sechs Prozent des deutschen Strommixes endgültig abgeschaltet. Wie passt das zusammen? Und ist die Versorgung künftig noch sicher?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, stößt schnell auf politische Deutungen. Zwar ist die Fraktion jener, die einen Blackout erwarten, aktuell deutlich leiser als noch vor einem halben Jahr, als die Laufzeit dreier Reaktoren für mehrere Monate verlängert wurde. Ob aber die Erneuerbaren Energien die Leistung der einstigen Grundlast-Kraftwerke und den erwarteten Zuwachs an Strombedarf verlässlich stemmen können, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Einige Experten wie der Atomkraft-Befürworter Prof. André Thess von der Universität Stuttgart erwarten, dass Kohlestrom und importierter Atomstrom aus Frankreich – und nicht Strom aus Sonne und Wind – die kurzfristigen Lücken schließen werden.

Atomkraftgegner verweisen gerne darauf, dass Kernkraft im Jahr 2022 in Deutschland ohnehin keine große Rolle mehr spielte. Tatsächlich beziffert das Statistische Bundesamt den Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung mit 6,4 Prozent – eine Halbierung des Vorjahreswerts, als es noch 12,6 Prozent waren. Ende 2021 wurden bereits drei AKWs im Zuge des Atomausstiegs abgeschaltet. Auch wenn Ausfälle ausblieben – ganz geräuschlos für die Stromversorgung ging das nicht vonstatten. Mehrfach wurde im Jahr 2022 in Süddeutschland dazu ermuntert, zu bestimmten Zeiten weniger Strom zu verbrauchen. Während im Norden durch Windkraft zu viel Energie erzeugt wurde und Anlagen abgeregelt werden mussten, fehlte aufgrund von Engpässen in den Übertragungsleitungen im Süden Strom, der aus dem Ausland eingekauft werden musste. Dort war die Situation aber angespannt, da Frankreich mit seinen AKW nicht zu so zuverlässig wie in der Vergangenheit liefern konnte. Statt noch 9,8 Milliarden Kilowattstunden Strom im Jahr 2021 wurden aus dem westlichen Nachbarland im Jahr 2022 nur 3,7 Milliarden kWh importiert.

Den Wegfall der drei bereits zum Jahreswechsel 2021/22 außer Betrieb gegangenen Atomkraftwerke glichen im Jahr 2022 Kohle und Erneuerbare Energien aus. Der Kohle-Anteil an der Stromerzeugung stieg im Vergleich zu 2021 um 2,1 Prozent. Mit 33,3 Prozent Anteil blieb die Kohle in Deutschland damit der wichtigste Energieträger für die Stromerzeugung. Zweitwichtigste Energiequelle war die Windkraft. Ihr Anteil betrug 24,1 Prozent nach 21,6 Prozent im Vorjahr. Photovoltaik legte von 8,7 Prozent auf 10,6 Prozent zu – neben dem weiteren Ausbau hätten auch die vielen sonnenreichen Tage für das Wachstum gesorgt, berichtet das Statistische Bundesamt.

Mit dem Kompensieren der heutigen Anteile des Atomstroms ist es für die künftige Versorgung freilich nicht getan. Große Ausbauziele bei Wärmepumpen und E-Mobilität werden für einen beträchtlichen Mehrbedarf sorgen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geht bis zum Jahr 2045 – dem Jahr, in dem Deutschland vollständig klimaneutral sein soll – von einer Verdoppelung des Bedarfs von derzeit 500 Terawattstunden auf 1000 Terawattstunden aus. Schon bis zum Jahr 2030 rechnet er mit 750 Terawattstunden Energiebedarf, sagte er anlässlich einer Veranstaltung zur Plattform Klimaneutrales Stromsystem (PKNS).

Das Bundeswirtschaftsministerium hat dabei eine klare Vorstellung, woher der Strom kommen soll. Bis zum Jahr 2030 wird ein Anteil von 80 Prozent Erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch angestrebt, heißt es. Spätestens 15 Jahre später, 2045, fallen fossile Energieträger als Rettungsanker ohnehin aus, wenn die Klimaziele eingehalten werden sollen.

Dass das kein Spaziergang wird, räumt auch das Ministerium ein: "Dafür ist ein ganz neues, flexibles und interagierendes Stromsystem notwendig."

Die kleinste Hürde dürften die aktuell noch bestehenden bürokratischen Hindernisse sein. Diese schrecken zum Beispiel Wohnungsbaugesellschaften vielfach davon ab, Photovoltaikanlagen auf die großen, häufig günstig gelegenen Dächer ihrer Häuser zu montieren. Das Wirtschaftsministerium hat dazu schon konkrete Pläne veröffentlicht. Auch Balkonkraftwerke als kleiner Beitrag, der nicht selten ein Einstieg in eine größere Lösung ist, sollen künftig mehr Strom einspeisen dürfen, ohne dass große Meldepflichten zu beachten oder technische Vorkehrungen wie eine spezielle Einspeisedose erforderlich sind.

Die Plattform Klimaneutrales Stromsystem (PKNS) soll indessen im Dialog zwischen Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft nach Lösungen für die größeren Hürden suchen. Dazu zählt etwa, wie gerade im dunklen Winter der nötige Strom für Wärmepumpen aufgebracht werden kann, wenn Solaranlagen selbst bei günstiger Witterung nur wenige Stunden am Tag Strom produzieren.

Dass am Ende auch mal zeitweise der Strom gezielt und vielleicht nur für einzelne Geräteklassen abgeschaltet werden könnte – wie es Skeptiker befürchten –, ist dabei wohl nicht gänzlich auszuschließen. Mit "nachfrageseitigen Flexibilitätsoptionen" ist immerhin schon mal eine blumige Umschreibung dafür gefunden worden. Unter den Oberbegriff fallen aber auch potenzielle Speichermöglichkeiten, wie etwa das Verwenden eines E-Autos als Batteriepuffer.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist überzeugt, dass vor allem Sonnenstrom den steigenden Strombedarf abdecken muss. Schon ohne Wärmepumpen stoße die Windenergie bis zum Jahr 2030 an die Ausbaugrenzen von 110 Gigawatt an Land und 30 Gigawatt auf See, heißt es in einem Papier. Das DIW geht überdies davon aus, dass die Stromkosten angesichts des nötigen massiven Ausbaus Erneuerbarer Energien steigen werden.

Und selbst wenn mehr Windstrom möglich wäre: Sofern er sich weiterhin im Norden konzentriert, gibt es immer noch das Übertragungsproblem in den Süden. Das Bundeswirtschaftsministerium geht trotz laufender Bemühungen um neue Hochspannungsleitungen zwischen Norden und Süden davon aus, dass "ein vollständig engpassfreier Netzaufbau nicht möglich" sein wird. Er wäre zudem auch nicht effizient, heißt es.

Dann wäre da schließlich noch die Möglichkeit, fehlenden Strom einfach aus dem Ausland zu importieren. Etwa ein Zehntel der Menge der Inlandsproduktion wurde im Jahr 2022 aus Nachbarstaaten bezogen. Dennoch exportierte Deutschland in der Gesamtbilanz mehr, als es importierte. Doch mit der Abhängigkeit von anderen Ländern würde sich Deutschland auch deren Energiepolitik zu eigen machen. Da viele Staaten Atomkraft neben Wind und Sonne als dritte klimaneutrale Säule der Energieerzeugung betrachten, wäre das politisch eine Rolle rückwärts – nur durch die Hintertür. Doch sollte die Versorgungssicherheit wirklich mal gefährdet sein, wäre dieser Aspekt erst mal zu vernachlässigen.

(mki)