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Der Grund für diese Vielseitigkeit findet sich weniger in den Leitungen selbst, die sowohl unsichtbar als Erd- oder Seekabel verlegt wie auch überirdisch als Freileitungen gespannt werden können. Es sind die Konverterstationen an den jeweiligen Endpunkten der Gleichstromautobahnen, die zeigen, wie sehr Elektroingenieure diese Technik vorangebracht haben. Diese Schaltzentralen, die aus Gleichstrom Drehstrom machen, waren schon in der Vergangenheit für den Anschluss an das bestehende Stromnetz unverzichtbar. Für klassische HGÜs übernehmen darin sogenannte Thyristoren die Aufgabe von "Stromventilen" und verkoppeln das Gleichstrom- mit dem Drehstromnetz. Aus Halbleiterschichten aufgebaut und mit dicken Keramikmänteln umhüllt, füllen diese Anlagen ganze Hallen. Dreimal kleiner fallen dagegen die Konverter für VSC-HGÜs aus. "Der Schlüssel für VSC-HGÜ sind leistungselektronische Elemente, die sogenannten IGBTs", sagt Görner. Das Kürzel steht für "Insulated-Gate Bipolar Transistor", einen Transistortyp, der speziell auf die Regelung von Gleichstrom unter Hochspannung zugeschnitten ist. Rund 3000 dieser IGBTs werden pro Konverterstation miteinander verschaltet und können derzeit Hochspannungen bis zu 320000 Volt verarbeiten.

Bis vor einigen Jahren galt die Faustregel, dass HGÜs erst ab 800 bis 1000 Kilometer wirtschaftlicher sind als Drehstrom-trassen. Mit dieser Einschränkung erwiesen sie sich für Europa als unökonomisch. "VSC-HGÜ-Systeme machen meiner Meinung nach aber schon ab 200 Leitungskilometern Sinn, offshore sogar ab rund 80 Kilometern", glaubt Görner. Damit können sie in Bereiche vordringen, die bisher allein den Drehstromkabeln vorbehalten waren. So entsteht derzeit quer durch die Pyrenäen eine 2000-Megawatt (MW)-VSC-HGÜ-Trasse zwischen Südfrankreich und Nordspanien. Als wichtige Teilverbindung eines transeuropäischen Stromnetzes soll sie Ende 2013 fertig sein. Vier Offshore-Windparks in der deutschen Nordsee werden per VSC-HGÜ – trotz Verzögerungen beim Bau – bis 2015 mit Kabellängen zwischen 130 und 200 Kilometern an das Landstromnetz angeschlossen sein. Das 400-MW-Seekabel "BorWin1" zu einem Offshore-Feld vor Borkum liegt bereits und wartet nun auf die Fertigstellung des Windparks. Weitere Projekte in Nord- und Ostsee sowie in den USA sollen in den kommenden Jahren abgeschlossen werden.

Mit diesen Projekten werden die Netzbetreiber wichtige Erfahrungen sammeln. Wer aber alle von Marquardt betonten Vorteile der Gleichstrom-Technologie nutzen möchte, muss die Leitungen miteinander vernetzen. Ziel ist ein sogenanntes Overlay-Netz, das europaweit als grobmaschiges Gitter den Massentransport für Energie übernimmt. Doch an diesem Punkt bleiben die Netzbetreiber skeptisch. "Die Vermaschung eines Gleichstromnetzes ist eine große technische Herausforderung. Und zurzeit gibt es weltweit keine solchen Netze", sagt Bartosz Rusek, Stromnetz-Ingenieur beim Unternehmen Amprion, das mit rund 11000 Kilometern zwischen Niedersachsen und den Grenzen zur Schweiz und Österreich das längste Höchstspannungsnetz in Deutschland besitzt. Die noch fehlende Praxis ist der Grund für die Zurückhaltung der Netzbetreiber.

"Ich kann diese Haltung verstehen", sagt Christian Franck, Professor am Institut für Elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik der Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ). Denn ein Netzausbau gleicht einer Operation am offenen Herzen: Trotz umfangreicher Baumaßnahmen darf der laufende Betrieb und damit die Versorgungssicherheit nicht gefährdet werden.

Den Stand der Technik beurteilt Marquardt viel optimistischer. "Mit der neuesten Entwicklungsstufe der VSC-HGÜ-Techno-logie, dem modularen Multilevel-Konverter, sind endgültig auch großräumige, vermaschte Gleichstromnetze realisierbar geworden", versichert der Erfinder. Diesen großen Schritt hin zu vermaschten Gleichstromnetzen ermöglicht eine pfiffige Variante der Leistungselektronik. Wie VSC-HGÜ nutzt auch die Multilevel-Technik die weitgehend ausgereiften IGBT-Transistoren. Doch ordnete Marquardt diese so an, dass die Gleichspannung von bis zu 320000 Volt nicht in zwei bis drei großen Schritten, sondern in vielen kleinen Spannungsstufen geregelt werden kann. Daher rührt die Bezeichnung "Multilevel". Mit diesem Aufbau lassen sich die Steuerungsprozesse in jeder Konverterstation binnen Millisekunden und ohne störende Spannungsschwankungen durchführen. Elektronisch geregelt lassen sich so mehrere Gleichstromtrassen störungsfrei an einem Punkt miteinander verknüpfen. Und auch die Kopplung mit dem Drehstromnetz gestaltet sich einfacher. Ersetzen soll es das existierende Drehstromnetz jedoch nicht. "Jedes Netz wird seine eigene Aufgabe haben. Und beide Netze brauchen sich gegenseitig", erklärt ABB-Experte Görner. Gleichstrom zum Transport über weitere Strecken, Drehstrom zur optimalen Verteilung bis zum Verbraucher.

In der Fachwelt der Stromnetzexperten ist das große Potenzial von Marquardts Erfindung unbestritten. "Die Multilevel-Technik ist der Schlüssel für ein vermaschtes Gleichstromnetz", bestätigt ETHZ-Wissenschaftler Franck. Und nahezu jeder Fachartikel über die Zukunft der HGÜ-Netze zitiert mindestens eine von Marquardts Veröffentlichungen. "Professor Marquardt hat sich diese Topologie ausgedacht, und Siemens hat sie 2005 als erstes Unternehmen aufgegriffen und umgesetzt", sagt Siemens-Ingenieur Jörg Dorn. Mittlerweile setzen alle Hersteller, auch ABB und Alstom, auf die Multilevel-Technik. Dieser hohe Entwicklungsstand der HGÜ-Technik blieb laut Marquardt aber bisher "leider weitgehend unbemerkt von der Politik und den Netzbetreibern".