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Dabei hätte ein Gleichstromnetz weitreichende Folgen für den geplanten Netzausbau. Strom könnte verlustarm über große Strecken geführt werden und das Drehstromnetz vor drohenden Blackouts schützen. "Damit bekommt man die Energie elektronisch steuerbar jederzeit dorthin, wo man sie braucht", so Marquardt. So könnte im Sommer ein Windstromüberschuss an der Nordsee auf direktem Weg Klimaanlagen in Italien versorgen oder im Winter Solarstrom aus Südspanien elektrische Heizungen in Polen. Der verlustarme Transport quer durch den Kontinent wäre wiederum die Voraussetzung für den angestrebten liberalisierten Strommarkt Europas. "Aber diese Technik macht – wie das Internet – nur Sinn in einem großräumigen Verbund."

Der für Europa prognostizierte Neubau von über 40000 Leitungskilometern ließe sich ebenfalls reduzieren. "Denn bereits gebaute Drehstromtrassen lassen sich auf Gleichstrom umstellen, und diese würden die doppelte bis dreifache Übertragungsleistung bieten", sagt Marquardt. Die Folge: Weniger neue Hochspannungsleitungen in der Landschaft und weniger Bürgerproteste gegen den Stromnetzausbau. Auch für die Verlegung neuer Leitungen unter die Erde ist HGÜ wegen geringerer Verluste weit besser geeignet als Drehstromtechnik. Bei Gleichstrom wäre eine Netzerweiterung mit einem größeren Anteil an Erdkabeln möglich, sodass Naturschutz- wie Wohngebiete verschont werden könnten.

Ein europäisches Gleichstrom-Supergrid hätte noch weitere Vorteile: Durch den transkontinentalen Ausgleich von Leistungs- und Verbrauchsspitzen sinkt regional der Bedarf an Speichern, und die bereits verfügbaren Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen oder Skandinavien könnten besser ausgelastet werden. "Selbst Speicher in mehreren 1000 Kilometern Entfernung könnten so optimal genutzt werden", sagt Marquardt. Und schließlich sinkt der Bedarf an zusätzlichen Kraftwerken, die heute noch für einen Ausgleich der schwankenden Stromausbeute aus Wind- und Solarparks geplant werden.

Ihre Feuertaufe hat die Multilevel-Technik schon hinter sich. Ein Multilevel-HGÜ-System, an dem Siemens mitwirkte, verknüpft San Francisco mit der kalifornischen Stadt Pittsburg. Von dort transportiert ein über 85 Kilometer langes Seekabel quer durch die San Francisco Bay genug Strom aus konventionellen und erneuerbaren Kraftwerken, um bis zu 40 Prozent des Bedarfs der nahen Metropole zu decken. "Nach dem erfolgreichen Start in Kalifornien können wir diese Technik im großen Stil anbieten", sagt Siemens-Netzexperte Jörg Dorn. Pilotkunden des deutschen Technologiekonzerns in Europa werden wahrscheinlich Netzbetreiber sein, die Offshore-Windparks an das Drehstromnetz an Land anbinden wollen. Sowohl das kalifornische Projekt als auch die europäische Offshore-Verkabelung sind Beispiele für lokal begrenzte HGÜ-Systeme. Für ein vermaschtes Gleichstromnetz an Land dagegen muss nicht nur viel Überzeugungsarbeit geleistet, sondern auch noch eine letzte technologische Hürde überwunden werden.

"Für vermaschte Gleichstromnetze fehlt noch ein sogenannter DC-Leistungsschalter", gibt Dorn zu. Dieser sei zwingend nötig, um beispielsweise nach einem Blitzschlag eine beschädigte Teilstrecke so schnell wie möglich vom übrigen Netz abzutrennen. Sonst könnte ein weitreichender Stromausfall die Folge sein. Mit Hochdruck wird in der Industrie und an den Instituten der Leistungselektroniker an einer Lösung gearbeitet. "Es wird viel entwickelt, aber den goldenen Gral, der geringe Verluste mit schnellen Schaltzeiten verbindet, gibt es nicht", sagt ETHZ-Ingenieur Franck. Noch nicht. Laut Marquardt existieren inzwischen geeignete Schaltungskonzepte und erfolgversprechende Labor-Prototypen. Auch wenn die Serienreife vielleicht erst in wenigen Jahren erreicht sein werde, gebe es keine wichtigen Gründe mehr, an der technischen und wirtschaftlichen Realisierbarkeit zu zweifeln. Prinzipielle Hindernisse sieht auch Marquardts Kollege Franck nicht.

Allein die Regeln, nach denen ein Gleichstromnetz europaweit betrieben werden soll, stehen noch nicht fest. Es gilt, eine einheitliche Spannungsebene und die sogenannten Netzcodes für die Steuerung der Stromflüsse festzuschreiben. "Das ist ein heißes Thema", sagt Jörg Dorn. Denn die Netzcodes regeln, welches Kraftwerk Strom einspeisen und verkaufen kann und wie dieser zum Verbraucher gelangen soll. Da sich die HGÜ-Systeme der wichtigen Zulieferer jedoch bis auf Details sehr ähneln, erwartet jeder – egal ob Forscher oder Industrievertreter – einen zügigen Abschluss dieser Verhandlungen binnen weniger Jahre.

Hersteller und potenzielle Kunden rechnen damit, dass erste kleine Gleichstromnetze noch dieses Jahrzehnt in Betrieb gehen. Ein Rest an Skepsis bleibt allerdings – auch deswegen, weil die Multilevel-HGÜ-Technik in den aktuellen Ausbauplänen für das deutsche und europäische Stromnetz allenfalls als Randnotiz vorkommt. So beurteilt auch die Deutsche Energie-Agentur dena diese Technik als "nicht einsatzbereit" und berücksichtigt sie nicht in ihren konkreten Ausbaustudien. Marquardt bezweifelt, dass Energieversorger und Netzbetreiber den aktuellen Stand der HGÜ-Technik kennen und wirklich verstehen. Unüberwindbar sind die Hürden bis zu einem europäischen Gleichstrom-Supergrid aber nicht mehr. Wenn es kommt, wird Marquardt auf seinen Beitrag stolz sein. Zum Patentmillionär wird er es aber nicht bringen. "Ich habe leider nicht so geschickt verhandelt und das Grundlagenpatent günstig an Siemens abgegeben", gibt er lachend zu. Ihm sei es wichtiger gewesen, diese für die Zukunft so wichtige Technologie anzuschieben. (bsc)