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Wenn Europa es ernst meint mit dem Ausbau regenerativer Energiequellen, muss der Stromtransport völlig neu organisiert werden – eine Sisyphusarbeit, die Politikern und Ökonomen gleichermaßen Angst macht. Dabei könnte ein neuartiges Gleichstromnetz viele Probleme schlagartig lösen und würde auch noch Geld sparen. Die Technik dafür steht zur Verfügung – fast.

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Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Jan Oliver Löfken
Inhaltsverzeichnis

Wenn Europa es ernst meint mit dem Ausbau regenerativer Energiequellen, muss der Stromtransport völlig neu organisiert werden – eine Sisyphusarbeit, die Politikern und Ökonomen gleichermaßen Angst macht. Dabei könnte ein neuartiges Gleichstromnetz viele Probleme schlagartig lösen und würde auch noch Geld sparen. Die Technik dafür steht zur Verfügung – fast.

Ohne Ausbau des Stromnetzes keine erfolgreiche Energiewende. In diesem Punkt herrscht in Deutschland Einigkeit auf breiter Front – von den Netzbetreibern und Windpark-Eignern bis zur Politik, Industrie und der Mehrheit der Bürger. Bis 2022, wenn das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht, sollen allein in Deutschland viele 1000 Kilometer neuer Leitungen gespannt und viele ältere renoviert sein. Sogar 2100 Kilometer Gleichstromverbindungen prognostizieren die vier großen deutschen Netzbetreiber – Tennet, Amprion, 50Hertz und TransnetBW – parallel zum bestehenden Netz auf vier Nord-Süd-Trassen. Mit dieser für ihre geringen Leitungsverluste bekannten Technik wollen sie Offshore-Windstrom zu den großen Verbrauchern im Süden der Republik schaffen. Doch das rund 30 Milliarden Euro teure Szenario, das maßgeblich den noch für dieses Jahr erwarteten Netzentwicklungsplan der Bundesregierung bestimmen könnte, hat einen gravierenden Haken.

Die Netzbetreiber setzen allein auf heute etablierte, verfügbare Technologie. Bahnbrechende Entwicklungen aus den vergangenen zehn Jahren werden kaum berücksichtigt. Groß ist daher das Risiko, dass mit einer starren, konservativen Netzplanung Milliarden verschleudert werden und unnötige Leitungen Landschaften zerschneiden. So planen die Firmen nach wie vor herkömmliche Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, obwohl eine Vernetzung der Gleichstromtrassen mittlerweile technisch möglich ist – und die Elektrizitätsübertragung weit leistungsfähiger machen würde. Denn der Vorteil vernetzter Gleichstromleitungen ist immens.

"Ein Gleichstromnetz kann drei Schlüsselprobleme der erneuerbaren Energien lösen: Man braucht deutlich weniger neue Leitungstrassen, weniger Speicher und wesentlich weniger neue Regelkraftwerke", sagt Rainer Marquardt, Professor für Leistungselektronik und Steuerungen an der Bundeswehr-Universität München. Um ein derartiges Netz zu realisieren, präsentierte er schon vor zehn Jahren seine Erfindung des "Modularen Multilevel-Konverters". Diese Neuheit schuf die Grundlage für vernetzte Gleichstromleitungen – eine Verbindungstechnik, die bis dahin für unmöglich gehalten wurde. Zusammen mit weiteren Entwicklungen im letzten Jahrzehnt birgt Marquardts Erfindung ein enormes Potenzial für eine Energiewende in ganz Europa. "Es bildet die entscheidende Infrastruktur für den Umstieg auf erneuerbare Energien", ist der Münchener Ingenieur überzeugt.

Dabei ist die Nutzung von Gleichstromleitungen an sich nicht neu. Seit Jahrzehnten hat sich der Stromtransport mit Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung – kurz HGÜ – anstelle von Drehstromtrassen bewährt. "Gleichstromübertragung ist historisch sogar die ältere Technologie", sagt Marquardt. Mit Leistungsverlusten von nur etwa einem halben Prozent pro 1000 Leitungskilometer stellen sie Drehstromleitungen allerdings weit in den Schatten. "Mit Gleichstrom können die Übertragungsverluste um 30 bis 50 Prozent reduziert werden", sagt Jörg Dorn, Leiter der HGÜ-Entwicklung bei Siemens Energy. HGÜ-Leitungen transportieren über Tausende von Kilometern Strom durch China und Brasilien, Indien und Australien, leiten die Energieernte aus den größten Wasserkraftwerken der Welt zu weit entfernten Industriezentren. Auch in Europa verknüpfen Gleichstrom-Seekabel Italien mit Griechenland oder Schweden mit Deutschland. Doch all diese Adern gründen auf einer klassischen, seit über 60 Jahren verfügbaren Technik. Sie sind nur für Punkt-zu Punkt-Verbindungen geeignet, benötigen riesige Konverteranlagen für die Anknüpfung an das Drehstromnetz und lassen sich kaum in ein Gleichstromnetz integrieren. So fristet HGÜ bis heute ein Nischendasein.

Aber viele Nachteile lassen sich mit der aktuellen HGÜ-Generation ausräumen. "Selbstgeführte HGÜ" werden sie in Deutschland genannt, im Fachjargon "Voltage Source Converter", kurz VSC-HGÜ. Die global führenden Netzbauer Siemens, ABB und Alstom haben diese Gleichstrom-Technik bereits in ihre Angebotspalette aufgenommen, bieten aber auch weiterhin die klassische HGÜ-Technik an. "In Deutschland und Europa wird die klassische HGÜ eine immer geringere Rolle spielen. VSC-HGÜ ist hier die zukunftsträchtigere Lösung", glaubt Raphael Görner, Leiter der Abteilung "Marketing und Vertrieb Grid Systems" bei ABB Deutschland. Denn mit VSC-HGÜ sind Gleichstromleitungen keine isolierten Stromautobahnen mehr, sondern können sehr gut zur Stabilisierung der Drehstromnetze beitragen. "So lässt sich beispielsweise mit Unterstützung einer VSC-HGÜ ein zusammengebrochenes Netz anfahren", sagt Jörg Dorn. Das bedeutet, die Leitung kann rasch große Mengen Elektrizität bereitstellen, damit quasi die Rolle eines Kraftwerks übernehmen und so das Risiko von Stromausfällen mindern. Zudem lässt sich der Stromfluss mühelos umkehren, ohne die elektrische Polung in der Leitung umschalten zu müssen. All diese Eigenschaften bieten klassische HGÜs nicht.