Börse auf Speed

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Wie der Hochgeschwindigkeitshandel funktioniert und was er für Auswirkungen haben kann, haben Joseph Saluzzi und Sal Arnuk, Mitgründer der in New Jersey angesiedelten Brokerfirma Themis Trading, in einem Aufsatz 2008 gezeigt: Angenommen, ein Investmentfonds gibt einen Kaufauftrag an seinen Broker und lässt dessen Computer zunächst den aktuellen Marktwert von 20,00 US-Dollar pro Aktie bieten. Der Broker soll aber auch noch etwas teurere Aktien kaufen – bis zum Preis von 20,03 Dollar. Wie weit der Käufer darüber hinauszugehen bereit ist, weiß erst einmal nur er selbst – beziehungsweise sein Broker.

Saluzzi und Arnuk erklären nun, wie Highspeed-Händler einen "Raubtier-Algorithmus" nutzen können, um diese Grenze auszuloten: Sie fluten den Markt mit Verkaufsaufträgen, die im Sekundentakt ausgefertigt und genauso schnell wieder storniert werden, so lange, bis der Investmentfonds anbeißt. Dann kauft der Händler näher am gegenwärtigen Preis von 20 Dollar von einem anderen, langsameren Investor und verkauft gleich wieder an den Fonds zu 20,03 Dollar. Weil der Hochfrequenz-Händler einen Geschwindigkeitsvorteil hat, kann er all diese Schritte erledigt haben, bevor der langsamere Teilnehmer aufholen und beispielsweise Anteile zu 20,01 Dollar anbieten kann. In kürzester Zeit hat ein solcher Algorithmus also die Grenzen des Käufers ausgelotet, einen Auftrag geschnürt und wieder verkauft und dabei von jeder Aktie ein paar Cent für sich selbst abgezwackt.

Doch das High-Frequency-Trading ist nicht unumstritten. Kritiker klagen, dass Händler den Markt manipulieren, zu Lasten der kleinen Investoren, und im schlimmsten Fall eine neue globale Finanzkrise provozieren könnten. Jeder Trend, der sich als derart dominant herausstellt, müsse auf potenziell gefährliche Nebeneffekte untersucht werden, warnt beispielsweise Paul Wilmott, Gründer des Studiengangs Finanzmathematik an der Universität Oxford und Herausgeber einer Fachzeitschrift über das Finanzwesen. Wilmott, nach seiner Selbstauskunft "instinktiv ein kritischer Geist", der schon 2000 davor warnte, dass der Derivatehandel gefährlich instabil sei, sieht in diesem neuen Trend konkrete Gefahren. Die Dominanz des Algorithmenhandels und die steigende Geschwindigkeit der Geschäftsabwicklung könnten winzige Preisdifferenzen lawinenartig anwachsen und in rasanter Geschwindigkeit bergab gehen lassen – entweder weil die Maschinen zu schnell handeln, oder weil zu viele Fonds im gleichen Stil Handel treiben. "Das Potenzial ist vorhanden, um einen Crash recht schnell entstehen zu lassen", sagt er.

Bernhard Donefer, Hochschullehrer für Finanzinformatik am Baruch College New York, fürchtet, dass automatisierte Hochfrequenzgeschäfte zu einer etwas kleineren Version des Börsenabsturzes von 1987 führen könnten, als der Markt an einem einzigen Tag um 22 Prozent einbrach. Viele führen diesen Crash von damals auf simple automatisierte Systeme zur "Portfolio-Absicherung" zurück, die an sich dazu gedacht sind, Verluste im Wertpapierhandel zu begrenzen, indem zu festgelegten Grenzwerten bei sinkenden Kursen automatisch Anteile verkauft werden. Aber die schiere Menge an Computern, die an diesem Tag nahezu gleichzeitig solche Verkaufsorder ausgaben, erzeugte eine sich selbst organisierende Massenflucht, die auch die dominanten Parketthändler zum Verkauf zwang. Donefer glaubt, dass ein derartiger Massenausverkauf heute um ein Vielfaches schneller eintreten würde.

Schlimmer noch: Die Lawine könnte genauso gut nicht nur durch falsche strategische Überlegungen ausgelöst werden, sondern durch ganz simples menschliches Versagen: Jemand könnte versehentlich den falschen Knopf einmal zu oft drücken – was Börsenmakler das "Fat Finger Syndrome" nennen – oder beim Programmieren einen Algorithmus verpfuschen. Die Aktienkurse von Corinthian Colleges, einer Verwaltungsfirma privater Bildungseinrichtungen, beispielsweise stürzten 2003 ins Bodenlose, als durch eine defekte Software oder menschliches Versagen ein Computer anfing, Anteile zu verkaufen, die sein Nutzer gar nicht besaß. Das System war auf den Verkauf der Anteile programmiert, wenn der ursprüngliche Kaufpreis erreicht würde, verkaufte dann die Anteile des Kunden – und hörte einfach nicht mehr auf. In zwölf Minuten waren fast drei Millionen Aktien verkauft, wobei der Preis von 57,50 bis auf 39,50 Dollar absackte. In einem High-Frequency-dominierten Markt könnte sich eine solche Störung binnen Sekunden weltweit ausbreiten.