Computergeschichte: "Ideen von Frauen hätten unsere Welt radikal verändert"

Claire Evans erzählt in ihrem Buch die Geschichte des Computings aus feministischer Sicht. Im Interview mit MIT Technology Review spricht sie darüber.

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Die Autorin Claire Evans mit antiquarischem Apple-Rechner in der Pose von Steve Jobs., Jaclyn Campanaro

Die Autorin Claire Evans mit antiquarischem Apple-Rechner in der Pose von Steve Jobs.

(Bild: Jaclyn Campanaro)

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Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

Aus Anlass des internationalen Frauentags wurde dieser heise+-Beitrag frei lesbar veröffentlicht.

Claire Evans ist ein wahres Multitalent: Sie ist nicht nur Sängerin und Texterin der avantgardistischen Popgruppe YACHT, sie schreibt auch Artikel und Bücher und ist Herausgeberin eines Sammelbands von Science-Fiction-Stories mit explizit diversem Ansatz. Ihr bereits 2018 erschienenes Buch "Broad Band: The Untold Story of the Women Who Made the Internet" erfährt seit Kurzem wieder viel Aufmerksamkeit.

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Claire, aus Ihrem Buch habe ich gelernt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Rechenleistung nicht in Megahertz oder Teraflops, sondern in Kilogirls gemessen wurde. Was sagte dieser Wert überhaupt aus?

Fast 200 Jahre lang war ein Computer keine Sache. Es war eine Stellenbeschreibung. Jemand, der beruflich Berechnungen durchführte. Frauen haben diese Arbeit von Anfang an gemacht, weil sie nicht als besonders privilegiert angesehen wurde oder ein besonderes mathematisches Genie erforderte. Die Arbeit als menschlicher Computer, der Berechnungen für die Ballistik, die Seefahrt oder andere rechenintensive wissenschaftliche Aufgaben durchführt, wurde als grobe geistige Arbeit betrachtet, ähnlich wie die Arbeit in einer Fabrik.

Als dann elektromechanische Computer aufkamen, war die Frage, wie schnell können sie die gleichen Probleme bearbeiten? Können sie es mit der Geschwindigkeit eines Mädchens oder noch schneller tun? Ein Kilogirl entspricht dabei 1000 menschlichen Computern.

Welche Motivationen hatten Sie, dieses Buch zu schreiben?

Ich liebe Computergeschichte. Ich habe die meisten der großen Bücher über Computergeschichte gelesen. Und alle diese Bücher haben eines gemeinsam, nämlich dass sie sehr selten über Frauen sprechen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen als Frau fand ich es absolut unmöglich, dass Frauen in keiner dieser Geschichten vorkommen. So begann ich einfach aus Neugier zu recherchieren, was zur gleichen Zeit geschah, als man eher ikonische Erzählungen aus der Computergeschichte hörte – über Männer in Garagen im Silicon Valley, die Unternehmen gründeten. Und ich dachte: Da muss doch noch etwas anderes passiert sein.

Und dieses "andere" mussten Sie dann unbedingt aufschreiben?

Ja, das wurde von einer müßigen Neugier zu einer Art Besessenheit, bis hin zu einem Punkt der Wut und Frustration, als ich entdeckte, dass nicht nur Frauen systematisch aus dem Standardkanon dieser Geschichte ausgeschlossen wurden, sondern dass es da wirklich fantastische Geschichten gab. Und diese Geschichten sind genauso aufschlussreich wie die, die wir gut kennen. Ich glaube, als ich das merkte, musste das Buch einfach geschrieben werden.

Es geht also auch um Sichtbarkeit?

Es geht darum, der Wahrheit näherzukommen. Ich betrachte dieses Buch als ein feministisches Buch, aber ich sehe es auch als etwas, das die Geschichte bereichert. Jede neue Perspektive, die einer historischen Periode hinzugefügt wird, führt zu einem besseren Verständnis. Die Computergeschichte wird oft als Produkt einer Reihe einsamer Genies dargestellt, die brillante Ideen entwickelten. Aber sie war ein sehr kollektives Unterfangen. Es geht mir mehr darum, eine kollektive Geschichte zu erzählen, als speziell eine weibliche oder feministische.

Noch in den Achtzigerjahren, schreibt unsere US-Kollegin Margaret O’Mara, wurden 70 Prozent der Programmierarbeit im Silicon Valley von Frauen geleistet. Aber das hat sich geändert. Warum ist das so?

Es gibt eine Menge ineinandergreifender, komplexer Faktoren. Da ist zum einen die Professionalisierung dieser Disziplin. In den Anfängen haben es Frauen viel leichter, sich durchzusetzen und einen Platz in Disziplinen und Bereichen zu finden, in denen es keinen etablierten Präzedenzfall, keinen Kanon, keine Institution und keine Ausbildungsanforderungen gibt. Informatik war neu, es gab keine Handbücher, keine Institutionen, keine Berufsverbände. Man wurde Programmierer, weil man ein Händchen dafür hatte. Man war gut im Eignungstest, hat sich Schachrätsel angesehen, war gut in Mathe, war Sekretärin oder Stenografin – das war es. Und es gab einen großen Bedarf an Programmiertalenten. Als die Branche in den Fünfziger- und Sechzigerjahren explodierte, war es für eine Frau relativ einfach, dort einzusteigen. Als das Programmieren von den Sechziger- bis zu den Achtzigerjahren immer mehr zu einer professionellen Disziplin wurde, kamen bestimmte Ausbildungsanforderungen hinzu, die es für Frauen in diesem Bereich schwieriger machten. Es war nicht so einfach, einen Hochschulabschluss in Informatik zu erlangen, wenn die Frauen Familie hatten.

Frauen wurden also nicht aktiv aus dem Feld gedrängt?

Nein, es war ein langsamer Übergang, der mit der Professionalisierung des Fachgebiets einherging, bei dem sich das Fachgebiet von Codern mit niedrigem Status zu Softwaredesignern mit höherem Status entwickelte. Dazu kommen die offensichtlichen Dinge wie Lohndiskriminierung, mangelnder Zugang zu Kinderbetreuung und Mangel an angemessener Betreuung und Unterstützung, vor allem für Programmiererinnen der ersten Generation. Obwohl in den Sechziger- und Siebzigerjahren viele Frauen in der Computerbranche arbeiteten, schafften sie es nicht in die privilegierteren Positionen, die die erste Generation innehatte, und in denen sie Programmierteams leiteten und die Kunst der Programmierung wirklich voranbrachten.

Marketing und Medien haben dabei allerdings auch eine nicht unwichtige Rolle gespielt, oder?

Wenn man sich Werbung für einen Computer aus den Siebziger- und Achtzigerjahren anschaut, sieht man entweder Frauen in Bikinis und Go-Go-Stiefeln, die an einem Großrechner lehnen, oder eine Anzeige, die zeigt, wie dieses und jenes neue Computerprogramm Männern hilft, all die nörgelnden Sekretärinnen in ihrem Büro loszuwerden. Das ist alles zutiefst sexistisch. Wenn ich Vorträge halte, verwende ich oft das Bild einer Apple-Two-Werbung aus den späten Siebzigerjahren, in der ein Mann an seinem Küchentisch sitzt, umgeben von Tabellen und Diagrammen und ähnlichen Dokumenten auf seinem Apple-Computer. Und seine Frau auf der anderen Seite der Küche, die Karotten schneidet, schaut ihn liebevoll aus der Ferne an.

Langsam erkennen wir die Auswirkungen, die das auf unsere Gesellschaft und auf die Werkzeuge, Plattformen und Produkte hat, und wir arbeiten daran, sie durch frühkindliche MINT-Erziehung abzubauen. Aber diese Vorstellungen sind ziemlich hartnäckig.

Sie zitieren auch die Soziologin Sherry Turkle, die sagt, dass sogar die Sprache, die die Informatik beschreibt, eine männliche, dominante, aggressive Sprache sei, die über das "excecuting" eines Programmes und "killing" von Prozessen spricht. Und als ich das las, dachte ich: "Ernsthaft, ist das das Problem?"

Es ist nicht DAS Problem. Es gibt nicht den einen Punkt, auf den wir das Problem reduzieren können. Es ist ein viel breiteres gesellschaftliches Problem, das wir angehen müssen. Technologie funktioniert nach dem Prinzip: Müll rein, Müll raus, richtig? Wenn das, was wir der Software als Input geben, historisch voreingenommen oder fehlerhaft ist oder auf einer sexistischen Logik beruht oder voller problematischer Sprache ist oder was auch immer, wird sich das im Output widerspiegeln.

Übrigens glaube ich nicht, dass es technische Lösungen für soziale Probleme gibt. Das ist eine der absoluten Illusionen von Technologie – diese Vorstellung, dass das Neue das Alte auslöschen wird. Oder dass ein neues Protokoll oder eine neue Technologie oder Konvention auftauchen und einen neutralen, offenen, utopischen Spielplatz bereitstellen wird.

All diese Technologie, die wir als grundlegend und unverzichtbar ansehen, ist das Resultat von Ideen, die sich jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt unter den sehr spezifischen Bedingungen seiner Zeit und den sehr spezifischen Bedürfnissen und Anforderungen seiner Projekte ausgedacht hat. Und sie waren nicht unbedingt dazu gedacht, für alle Zeiten in Stein gemeißelt zu werden. Dinge können im Fluss sein und wir können neue Entscheidungen treffen. Vielleicht ist das optimistisch, aber wir haben immer die Macht, die Dinge zu verändern.

Wenn wir das Problem der männlichen Dominanz in der Gesellschaft lösen könnten, würde das eine andere Art von Technologie inspirieren?

Ich versuche, jede Art von grundsätzlichem Argument darüber zu vermeiden, wie Frauen und Männer denken. Wir müssen neu definieren, was es bedeutet, technisch zu denken, und wir müssen das Menschliche als Teil davon miteinbeziehen. Um gute Software zu entwickeln, muss man verstehen, wie man diese chaotischen Probleme der realen Welt an die Maschine weitergibt und ein Werkzeug entwickelt, das diese Probleme löst, anstatt neue Probleme zu schaffen. Und das erfordert ein Verständnis für die Gesellschaft als Ganzes und die Bereitschaft, über die Konsequenzen dessen, was man tut, nachzudenken.

Das klingt abstrakt. Können Sie das anhand eines Beispiels konkretisieren?

Es gab im Laufe der Geschichte viele Fälle, in denen Projekte, Ideen und Frameworks, die von Frauen entwickelt wurden, die Art und Weise, wie unsere Welt funktioniert, wirklich radikal hätten verändern können – wenn diese Frauen bekannt gewesen wären oder das Projekt zur richtigen Zeit ans Licht gekommen wäre. Hypertext ist ein großartiges Beispiel dafür. Es gab fast 20 Jahre lang Leute, die wirklich ausgeklügelte und interessante Hypertext-Plattformen und -Systeme (siehe Kasten) entwickelt haben, die sich Gedanken über die ganzheitliche Beziehung gemacht haben, warum Ideen miteinander verbunden sind und was es bedeutet, wenn eine Tatsache mit einer anderen Tatsache verbunden werden kann. Viele davon Frauen. Und sie haben Systeme entwickelt, in denen so etwas wie ein 404-Fehler (Seite nicht gefunden, Anm. d. Red.) unmöglich ist, weil die Verbindungen, die Links das Wichtigste in diesem System sind. Hätten wir heute solche Systeme als primäre Informationsbrowser, würden wir vielleicht anders denken. Wenn ich mir solche Dinge anschaue, stelle ich mir vor, was wäre dann gewesen? In der Zukunft könnten ähnliche Dinge passieren. Wir müssen einfach in der Lage sein, an die Gegenwart zu denken, statt die Dinge im Rückspiegel zu betrachten.

Es gibt hier einen gut sichtbaren Zyklus: Solange Frauen als Reservekräfte gebraucht werden, können sie arbeiten, werden sie nicht mehr gebraucht, werden sie rausgeschmissen. Haben Sie eine Idee, wie man diesen Kreislauf durchbrechen kann?

Nein, das weiß ich nicht. Wenn man sich die Geschichte anschaut, gab es immer wieder Punkte, an denen Frauen die Möglichkeit hatten, in eine Branche einzusteigen, die ihnen sonst verwehrt geblieben wäre. Und diese Gelegenheiten ergaben sich, wenn die Männer im Krieg waren oder wenn die Industrien so in Bewegung waren, dass ein massiver Bedarf an Programmiertalenten bestand. Wir befinden uns jetzt in so einer Phase. Aber die Welt ist komplexer geworden.

Ich glaube auch nicht, dass der Gegenpol zu einer großen männlichen Weltgeschichte eine große weibliche Weltgeschichte ist. Die Wahrheit liegt dazwischen. Es geht um die kollektive Anstrengung. Es kann nur wirklich vorwärtsgehen, wenn wir zusammenarbeiten. Ich weiß, das ist eine Art Plattitüde, aber ich glaube, es ist wahr.

Die Ursprünge des Hypertext

Eine der Eigenschaften, die dem World Wide Web in den frühen 1990er-Jahren zu seinem Durchbruch verhalfen, war die einfache Möglichkeit, mithilfe von Links von den eigenen Webseiten auf Texte auf anderen Computern im Netzwerk zu verweisen. Das technische Instrument dazu war und ist HTML, die Hypertext Markup Language, die ein Stichwort mit einer Internetadresse verbindet.

Das Wort "Hypertext" in dieser Bezeichnung verweist allerdings auf eine sehr viel allgemeinere Idee, die zudem um einiges älter ist: Hypertext – der Begriff wurde erstmals 1965 eingeführt – sollte miteinander vernetzten Medieninhalten eine Art Überstruktur verleihen, die Wissenszusammenhänge verdeutlicht. Eines der frühen, tatsächlich funktionsfähigen Systeme, die das implementierten, wurde 1989 von der britischen Informatikerin Wendy Hall geschaffen. Im Unterschied zum heutigen HTML speicherte das Microcosm genannte System Verweise nicht direkt im Dokument, sondern in externen Datenbanken, den Linkbases. Die konnten je nach Verwendungszweck und Nutzer – grober Überblick, wissenschaftliches Studium, aktuelle Kommentare zur Diskussion – unterschiedlich gewählt werden. Beim Aufrufen eines Textes fügte die Software dann automatisch die entsprechenden Verweise ein. Wenn ein Verweis nicht mehr funktionierte, wurde er auch gar nicht erst angezeigt. Der berüchtigte "Error 404", mit dem zerbrochene Links enden, taucht in diesem System schlicht nicht auf.

(wst)