Computergeschichte: "Ideen von Frauen hätten unsere Welt radikal verändert"
Claire Evans erzählt in ihrem Buch die Geschichte des Computings aus feministischer Sicht. Im Interview mit MIT Technology Review spricht sie darüber.
Aus Anlass des internationalen Frauentags wurde dieser heise+-Beitrag frei lesbar veröffentlicht.
Claire Evans ist ein wahres Multitalent: Sie ist nicht nur Sängerin und Texterin der avantgardistischen Popgruppe YACHT, sie schreibt auch Artikel und Bücher und ist Herausgeberin eines Sammelbands von Science-Fiction-Stories mit explizit diversem Ansatz. Ihr bereits 2018 erschienenes Buch "Broad Band: The Untold Story of the Women Who Made the Internet" erfährt seit Kurzem wieder viel Aufmerksamkeit.
Claire, aus Ihrem Buch habe ich gelernt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Rechenleistung nicht in Megahertz oder Teraflops, sondern in Kilogirls gemessen wurde. Was sagte dieser Wert überhaupt aus?
Fast 200 Jahre lang war ein Computer keine Sache. Es war eine Stellenbeschreibung. Jemand, der beruflich Berechnungen durchführte. Frauen haben diese Arbeit von Anfang an gemacht, weil sie nicht als besonders privilegiert angesehen wurde oder ein besonderes mathematisches Genie erforderte. Die Arbeit als menschlicher Computer, der Berechnungen für die Ballistik, die Seefahrt oder andere rechenintensive wissenschaftliche Aufgaben durchführt, wurde als grobe geistige Arbeit betrachtet, ähnlich wie die Arbeit in einer Fabrik.
Als dann elektromechanische Computer aufkamen, war die Frage, wie schnell können sie die gleichen Probleme bearbeiten? Können sie es mit der Geschwindigkeit eines Mädchens oder noch schneller tun? Ein Kilogirl entspricht dabei 1000 menschlichen Computern.
"In keiner dieser Geschichten kommen Frauen vor"
Welche Motivationen hatten Sie, dieses Buch zu schreiben?
Ich liebe Computergeschichte. Ich habe die meisten der großen Bücher über Computergeschichte gelesen. Und alle diese Bücher haben eines gemeinsam, nämlich dass sie sehr selten über Frauen sprechen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen als Frau fand ich es absolut unmöglich, dass Frauen in keiner dieser Geschichten vorkommen. So begann ich einfach aus Neugier zu recherchieren, was zur gleichen Zeit geschah, als man eher ikonische Erzählungen aus der Computergeschichte hörte – über Männer in Garagen im Silicon Valley, die Unternehmen gründeten. Und ich dachte: Da muss doch noch etwas anderes passiert sein.
Und dieses "andere" mussten Sie dann unbedingt aufschreiben?
Ja, das wurde von einer müßigen Neugier zu einer Art Besessenheit, bis hin zu einem Punkt der Wut und Frustration, als ich entdeckte, dass nicht nur Frauen systematisch aus dem Standardkanon dieser Geschichte ausgeschlossen wurden, sondern dass es da wirklich fantastische Geschichten gab. Und diese Geschichten sind genauso aufschlussreich wie die, die wir gut kennen. Ich glaube, als ich das merkte, musste das Buch einfach geschrieben werden.
Es geht also auch um Sichtbarkeit?
Es geht darum, der Wahrheit näherzukommen. Ich betrachte dieses Buch als ein feministisches Buch, aber ich sehe es auch als etwas, das die Geschichte bereichert. Jede neue Perspektive, die einer historischen Periode hinzugefügt wird, führt zu einem besseren Verständnis. Die Computergeschichte wird oft als Produkt einer Reihe einsamer Genies dargestellt, die brillante Ideen entwickelten. Aber sie war ein sehr kollektives Unterfangen. Es geht mir mehr darum, eine kollektive Geschichte zu erzählen, als speziell eine weibliche oder feministische.