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Corona-Pandemie: Warum China noch immer alles desinfiziert

Zeyi Yang

(Bild: Redhatz69/Shutterstock.com)

Viele Länder halten die Übertragung von Covid-19 über Oberflächen nicht mehr für relevant. China aber nutzt Desinfektions-Kampagnen für politische Interessen.

In einem einminütigen Video, das Anfang Mai in China viral ging, versprühen drei Regierungsmitarbeiter in Schutzanzügen Desinfektionsmittel in der ganzen Wohnung: im Kühlschrank, unter dem Fernseher und auf der Couch. In den sozialen Medien stellten sich viele Bürger die Frage, ob es ihnen zu Hause auch so ergehen würde, sollten sie sich mit dem Virus anstecken.

Außerhalb Chinas ist die Sorge, sich über Oberflächenkontakt mit dem Virus anzustecken [1], weitgehend verflogen. Das Risiko ist relativ gering, wie viele Studien ergeben hatten. Desinfizieren von Oberflächen gilt inzwischen als ein Relikt aus den Anfängen der Pandemie. Doch China scheint diesbezüglich in einer Zeitschleife von Anfang 2020 festzuhängen. Nachdem das Video [2] in Umlauf gebracht wurde, sagte ein lokaler Regierungsbeamter, die Desinfektion der Wohnungen von Covid-19-Patienten stünde "im Einklang mit Expertenmeinungen".

China hat derzeit mit dem größten Anstieg von Covid-Fällen in seiner Geschichte zu kämpfen. Wissenschaftler kritisieren, es würde Zeit und Geld in die falschen Dinge gesteckt, wenn die Regierung Oberflächen weiterhin als erhebliches Infektionsrisiko darstellen würde. Denn Maßnahmen zur Verhinderung der Übertragung durch Aerosole [3] sind weitaus wirksamer.

Desinfektion weiterhin in den Vordergrund zu stellen, zählt zu der Politisierung der Krise durch den Staat. So sollen die Handlungen der Regierung legitimiert werden. Und außerdem passt es zu der von China favorisierten Darstellung, dass das Coronavirus [4] über Tiefkühlkost nach Wuhan eingeschleppt worden sein könnte.

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Die wissenschaftliche Debatte darüber, inwieweit Oberflächen zur Ausbreitung von Covid-19 beitragen, ist international so gut wie abgeschlossen. Eine Studie der Universität Michigan, im April 2022 im "Journal of Exposure Science & Environmental Epidemiology" veröffentlicht [23], schätzt die Wahrscheinlichkeit, sich über eine kontaminierte Oberfläche mit dem Coronavirus anzustecken, auf 1 zu 100.000. Das liegt weit unter dem Richtwert, den Wissenschaftler als tolerierbares Risiko vorgeschlagen haben.

Zwar ist das Risiko nicht gleich null, doch die meisten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, einschließlich der Weltgesundheitsorganisation, stufen es als so gering ein, dass sie Maßnahmen außer der Empfehlung des Händewaschens als nicht gerechtfertigt sehen. Außerhalb Chinas haben die meisten Länder schon vor langer Zeit aufgehört, die Menschen zum Desinfizieren von Gegenständen anzuhalten. Die US-amerikanischen Zentren für Seuchenkontrolle und -prävention CDC haben ihre Leitlinien bereits vor zwei Jahren, im Mai 2020, aktualisiert [24], um dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Stattdessen ist der überwältigende Konsens, dass Aerosole und Tröpfchen das Virus viel leichter übertragen als Oberflächen. Die obengenannte Studie aus Michigan kam zu dem Ergebnis, dass eine Übertragung über die Luft 1.000-mal wahrscheinlicher ist als eine Übertragung über Oberflächen.

"Die Menschen lassen sich nur auf eine bestimmte Zahl von gesundheitsfördernden Verhaltensweisen ein. Es ist gut, wenn sie sich auf die Dinge konzentrieren, die das Risiko am meisten verringern", sagt Amy Pickering, Assistenzprofessorin für Umwelttechnik an der University of California, Berkeley. "Das heißt, Masken zu tragen, Abstand zu halten und überfüllte Innenräume zu meiden."

Die Medien und die Regierung in China verweisen häufig auf Forschungsergebnisse, um die anhaltende Sorge vor einer Übertragung über Oberflächen zu rechtfertigen. So haben Studien von Forschern in Hongkong, Japan und Australien ergeben, dass Coronaviren Tage [25] oder Wochen auf verschiedenen Oberflächen [26] überleben können. Viele dieser Studien wurden jedoch nicht von Fachleuten begutachtet. Außerdem entsprächen diese Laborergebnisse nicht der Realität, sagt Ana K. Pitol, Postdoktorandin an der Liverpool School of Tropical Medicine in Großbritannien. "Wenn man einen großen Tropfen in ein Medium gibt, das das Virus schützt, und es dann in einen Inkubator stellt, überlebt es natürlich viele Tage, manchmal sogar Wochen", sagt sie. "Aber wir sollten uns die Frage stellen, wie lange es in einer realistischen Situation überlebt".

Experten befürchten, dass Chinas Konzentration auf Oberflächen ihren Preis hat. So kann es durch übertriebenes Desinfizieren zu chemischen Belastungen kommen, die ihrerseits Gesundheitsrisiken bergen. Davor hatten chinesische Wissenschaftler schon früh im Jahr 2020 gewarnt. [27] Als die Desinfektionskampagnen nach dem sprunghaften Anstieg von Covid-19-Fällen noch intensiver durchgeführt wurden, bewahrheiteten sich ihre Befürchtungen. In Shanghai litten einige Bewohner an Reizungen von Haut und Schleimhäuten [28], nachdem ihre Wohnungen zu nachlässig mit Desinfektionsmitteln behandelt worden waren. Außerdem soll in diesem Zusammenhang ein Hund gestorben sein. Selbst wenn die Mittel richtig angewendet werden, seien aufwändige Desinfektionskampagnen keine gute Investition von Ressourcen, befürchten Wissenschaftler.

China hat einen Hintergedanken, wenn es die übermäßige Reinigung weiter vorantreibt. Wenn die Menschen glauben, dass Oberflächen gefährlich sind, lassen sich strenge Abriegelungen leichter rechtfertigen. Außerdem stützt dies die staatlich geförderten Verschwörungstheorien über die Ursprünge des Virus [29]. Ein Rückzug aus diesem Narrativ könnte politisch heikel sein.

Im Oktober 2020 meldeten die chinesischen Gesundheitsbehörden, dass sie in der chinesischen Stadt Qingdao zum ersten Mal lebende Coronavirus-Proben auf importierten gefrorenen Meeresfrüchten entdeckt hatten. Seitdem haben die Regierung und die Medien immer wieder darauf hingewiesen, dass es möglich sei, sich über Verpackungen mit dem Coronavirus anzustecken. Es wurde sogar behauptet, dass der allererste Covid-19-Ausbruch in Wuhan durch ein aus Italien [30] oder den Vereinigten Staaten [31] eingeführtes Virus verursacht worden sei. Noch populärer wurde die Idee in diesem Jahr, als die ansteckendere Omikron-Variante [32] auftauchte.

Im Januar wurde in Peking der erste lokale Fall des Jahres 2022 gemeldet. Da der Patient nirgendwohin gereist war, wo aktive Covid-19-Fälle auftraten, vermuteten die Gesundheitsbehörden, dass die Person über Post aus Kanada in Kontakt mit dem Coronavirus gekommen sei. Obwohl sich nicht beweisen ließ, dass das auf den Briefen gefundene virale Material die Ursache und nicht die Folge der Krankheit war, hieß es in dem offiziellen Bericht [33] über die Ermittlung von Kontaktpersonen, es sei "nicht ausgeschlossen, dass die Person durch Sendungen aus dem Ausland mit dem Virus infiziert wurde." Tipps zur Desinfektion von internationalen Paketen folgten.

Etwa zur gleichen Zeit meldeten auch andere chinesische Städte, darunter Shenzhen und Zhuhai, erste Omikron-Patienten, die während ihrer Arbeit in Kontakt mit importierter Ware kommen. Das heizte die Gerüchteküche weiter an.

Auf die Frage, ob bei der Omikron-Variante ein höheres Risiko bestünde, dass sie über Oberflächen übertragen werden könne, antwortete Wu Zunyou, der Chef-Epidemiologe des chinesischen Gesundheitsministeriums, vage [34]. Er räumte zwar ein, dass Tröpfchen die Hauptübertragungsmethode sind, brachte aber erneut das Schreckgespenst einer Infektion über Verpackungen ins Spiel: "Das Risiko, dass kontaminierte Oberflächen Infektionen verursachen, ist relativ gering. Wenn es aber wiederholt zu Berührungen kommt und nicht auf Handhygiene oder persönlichen Schutz geachtet wird, steigt das Risiko erheblich. Deshalb testen wir regelmäßig Personen, die in der Kühlkettenlogistik und im Versand arbeiten."

Der krasse Gegensatz zwischen dem Verständnis des Risikos der Oberflächenübertragung innerhalb und außerhalb Chinas zeigt deutlich, dass die öffentliche Gesundheitspolitik Chinas eher politischen Zielen als wissenschaftlichen Fakten folgt.

"Die öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen sind Teil dieser politischen Mission geworden. Sie werden in erster Linie von staatlichen Interessen angetrieben, mit dem Ziel, die staatliche Kontrolle und Macht zu stärken", sagt Yangyang Cheng, Wissenschaftler an der Yale Law School, der die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie in China untersucht.

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Das Narrativ der Oberflächenübertragung dient im aktuellen Kontext auch einem anderen Zweck, sagt Cheng. "Die Oberfläche zu reinigen ist weit kostengünstiger als die Luft zu filtern. Wegen der hohen Investitionen scheinen das nur sehr wenige Staaten durchzuführen. Entweder kümmern sie sich nicht darum wie die USA, oder sie führen solche performativen Aktionen durch wie China", sagt Cheng.

Als im April in der chinesischen Provinz Jilin lokal die Rinderpest ausbrach, wurde dort eine Gesamtfläche von 61.978.900 Quadratmetern desinfiziert – das entspricht rund als 8.500 Fußballfeldern. Und das in nur einer einzigen Provinz. Während der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking boten Roboter, die Oberflächen reinigen und Desinfektionsmittel versprühen [36], China eine Chance, sein technisches Know-how unter Beweis zu stellen.

In jüngster Zeit gab es jedoch einige kleine Anzeichen für einen Wandel. Am 17. Mai warnte Zhu Renyi, ein Beamter der Shanghaier Gesundheitsbehörde, in einer Pressekonferenz vor zu starker Desinfektion, wahrscheinlich als Reaktion auf die Berichte über fehlgeschlagene Desinfektionskampagnen. Er lehnte den Einsatz von Robotern und Drohnen ausdrücklich ab, bestand aber darauf, dass Lieferpakete weiterhin desinfiziert werden müssen: "[Pakete] sollen erst dann verteilt werden, wenn eine halbe Stunde nach einer umfassenden Desinfektion verstrichen ist."

(jle [37])


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[1] https://www.heise.de/hintergrund/So-lange-ueberlebt-das-Coronavirus-in-der-Luft-und-auf-Oberflaechen-4684796.html
[2] https://www.youtube.com/watch?v=6QQ5J7LqCVA
[3] https://www.heise.de/hintergrund/Neue-Corona-Studie-Ohne-Maske-sind-auch-drei-Meter-Abstand-zu-wenig-6285627.html
[4] https://www.heise.de/thema/Coronavirus
[5] https://www.heise.de/hintergrund/COVID-19-Weshalb-manche-Menschen-gar-nicht-am-Coronavirus-erkranken-6663355.html
[6] https://www.heise.de/hintergrund/Schneller-und-einfacher-T-Zell-Test-prueft-Abwehr-gegen-Corona-7162580.html
[7] https://www.heise.de/meinung/Analyse-Warum-es-nur-eine-Corona-Impfung-fuer-gesunde-Fuenf-bis-Elfjaehrige-gibt-7122759.html
[8] https://www.heise.de/hintergrund/Corona-Pandemie-Was-Omikron-bei-Geimpften-mit-den-Antikoerpern-macht-6290653.html
[9] https://www.heise.de/hintergrund/Long-Covid-Behandlung-Besser-existierende-Medikamente-nutzen-als-nichts-tun-7215045.html
[10] https://www.heise.de/hintergrund/Biontech-Omikron-reduziert-Corona-Impfwirkung-doch-die-Booster-wirken-6290312.html
[11] https://www.heise.de/hintergrund/Omikron-BA-2-Wesentlich-ansteckender-aber-nicht-gefaehrlicher-als-das-Original-6529594.html
[12] https://www.heise.de/hintergrund/Was-Medikamente-gegen-COVID-19-bewirken-koennen-6294193.html
[13] https://www.heise.de/hintergrund/Mit-Anti-Aging-Medikamenten-gegen-COVID-19-7099440.html
[14] https://www.heise.de/hintergrund/Studie-mit-absichtlich-Infizierten-zeigt-COVID-19-frueher-ansteckend-als-gedacht-6348993.html
[15] https://www.heise.de/hintergrund/Bambi-Hamster-und-Nerz-SARS-Cov-2-unter-Tieren-6457652.html
[16] https://www.heise.de/hintergrund/Neue-Corona-Studie-Ohne-Maske-sind-auch-drei-Meter-Abstand-zu-wenig-6285627.html
[17] https://www.heise.de/news/Wie-lange-kann-man-eine-FFP2-Maske-verwenden-6323476.html
[18] https://www.heise.de/hintergrund/Corona-Pandemie-Hohe-Infektionszahlen-bedeuten-auch-mehr-Long-Covid-Faelle-6287040.html
[19] https://www.heise.de/hintergrund/Long-Covid-Wie-viele-Kinder-sind-wirklich-betroffen-6664976.html
[20] https://www.heise.de/hintergrund/Long-Covid-Antikoerper-Signatur-zeigt-Risiko-fuer-Erkrankte-6358572.html
[21] https://www.heise.de/hintergrund/Warum-die-US-Impfdaten-fuer-eine-COVID-Immunisierung-von-Kinder-sprechen-6236804.html
[22] https://www.heise.de/hintergrund/SARS-CoV-2-Wer-ist-die-Virus-Forscherin-im-Zentrum-der-Laborleck-Kontroverse-6371846.html
[23] https://www.nature.com/articles/s41370-022-00442-9
[24] https://www.nytimes.com/2020/05/28/well/live/whats-the-risk-of-catching-coronavirus-from-a-surface.html
[25] https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.01.18.476607v2
[26] https://virologyj.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12985-020-01418-7
[27] https://www.hanspub.org/journal/PaperInformation.aspx?paperID=37372
[28] https://www.yicai.com/news/101412499.html
[29] https://www.heise.de/hintergrund/SARS-CoV-2-Wer-ist-die-Virus-Forscherin-im-Zentrum-der-Laborleck-Kontroverse-6371846.html
[30] https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-china-origin/with-frozen-food-clampdown-china-points-overseas-as-source-of-coronavirus-idUSKBN2861A2
[31] https://www.nbcnews.com/news/china-linked-disinformation-campaign-blames-covid-maine-lobsters-rcna3236
[32] https://www.heise.de/hintergrund/Omikron-Mutationen-schon-Monate-vor-der-Dominanz-der-Virusvariante-aufspuerbar-6656792.html
[33] http://wjw.beijing.gov.cn/wjwh/ztzl/xxgzbd/gzbdyqtb/202201/t20220117_2592610.html
[34] https://news.cctv.com/2022/04/13/ARTIwKJsjHL6ITEYV477lhYB220413.shtml
[35] https://www.instagram.com/technologyreview_de/
[36] http://english.www.gov.cn/news/videos/202111/18/content_WS6195b224c6d0df57f98e5210.html
[37] mailto:jle@heise.de