Long-Covid-Behandlung: statt Untätigkeit – existierende Medikamente nutzen!

Der "Long Covid Awareness Day" soll Betroffene der Krankheit in den Fokus rücken. Der Arzt Michael Stingl versucht, ihnen mit etablierten Mitteln zu helfen.

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(Bild: BlurryMe/Shutterstock.com)

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Aufmerksamkeit und das Bewusstsein soll mit dem internationalen Aktionstag "Long Covid Awareness Day" auf die Krankheit Long Covid und die Betroffenen gelenkt werden. Es heißt oft, es sei kaum etwas über die Ursachen von Long Covid und dem ebenfalls post-viralen Folgesyndrom Myalgische Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS) bekannt. Es gebe auch wenig Labormarker, Untersuchungsmethoden oder Medikamente. Doch das stimmt nur teilweise. Man kennt vielleicht nicht die genauen Auslösemechanismen, die alles in Gang setzen. Doch über die zellbiologischen Hintergründe der Symptome weiß man inzwischen einiges.

Viele dieser Symptome und Mechanismen sind von anderen Gesundheitsproblemen bekannt, für die es Medikamente gibt. Der österreichische Neurologe Michael Stingl hat sie auf seiner Webseite zusammengetragen und plädiert im Interview mit MIT Technology Review dafür, den Long-Covid- und ME/CFS Patienten gut zuzuhören, bekannte Tests anzuwenden und die Symptome pragmatisch mit existierenden Medikamenten zu lindern versuchen.


Das Interview mit dem Neurologen Michael Stingl erschien erstmals am 10. August 2022. Anlässlich des "Long Covid Awareness Day" am 15. März veröffentlichen wir das Gespräch erneut.


Herr Stingl, was haben Sie von ME/CFS gelernt, das Sie nun in der Diagnose und Therapien auch bei Long Covid anwenden – und umgekehrt?

Michael Stingl.

Weil ME/CFS so ähnlich ist, war es von Anfang an naheliegend, das was man von ME/CFS weiß, auch bei Long Covid einzusetzen und umgekehrt. Für mich entspricht eine Untergruppe von Long Covid der ME/CFS. Betroffen sind meistens junge Leute zwischen 15 und 45 Jahren, oft mit mildem Verlauf, die dann eine sogenannte Post Exertional Malaise, oder kurz PEM, erfahren. Sie erleben also oft bei sehr banalen Aktivitäten eine massive Verschlechterung ihres Zustandes, und das ist relativ typisch für postvirale Fatigue. PEM ist ein Kernmerkmal von postviraler Fatigue. Ich meine also nicht Covid-Patienten, die eine Lungenentzündung hatten und rehabilitiert werden müssen oder andere Organschäden haben.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Leider haben wir keine Therapien, die ME/CFS und Long Covid ursächlich behandeln, weil wir die Gründe noch nicht genau kennen. Aber es gibt viele symptomatische Therapien und Medikamente, die zusätzlich zur eigentlichen Indikation auch noch einen anderen Effekt haben, nämlich meistens [zur Behandlung, Anm. d. Red.] entzündlicher Prozesse. Das versucht man, angepasst an die Patienten, in einem Versuch-und-Irrtum-Prozess auszuprobieren.

Viele Betroffene berichten, dass Ärzte oft nur auf die Standardtests gucken, und wenn sie nichts finden, sagen: 'Da ist nichts'. Was machen Sie anders?

Wir wissen aus experimentellen Untersuchungen, dass das sehr wohl was ist. Und es gibt durchaus Tests, die man sich anschauen kann. Das Allerwichtigste: Um abzuklären, ob ME/CFS oder Long Covid vorliegt, schaue ich mir die Kreislauffunktion mit einem simplen Test an – den sogenannten Schellong-Test oder NASA Lean Test: Die Leute liegen zehn Minuten auf dem Rücken, bekommen Blutdruck und Puls gemessen und dann stehen sie auf, lehnen sich gegen die Wand und wir messen zehn Minuten lang jede Minute Blutdruck und Puls. Das wird aber in der klinischen Praxis oft nicht gemacht, weil es zu lange dauert.

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Was zeigt dieser Test?

Ein Syndrom namens POTS, also posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom. Bei POTS kommt es zu einem übermäßig starken Anstieg der Herzfrequenz, begleitet von Symptomen wie Schwindel, Präkollapsgefühl, Übelkeit und Schwitzen. Das betrifft sehr viele Leute mit ME/CFS und auch viele mit Long Covid. Es steht jetzt auch zunehmend in Leitlinien drin, dass das gemacht werden muss. Da hat man schon oft einen sehr guten Hebel der symptomatischen Therapie.

Was kann noch ein Beleg für ME/CFS und Long Covid sein?

Viele Patienten mit postviralem Syndrom sind sehr infektanfällig. Wenn sie zum Beispiel sagen, ich habe siebenmal im Jahr einen Infekt für zwei Wochen, dann ist das deutlich mehr als man erwarten würde. Das gehört immunologisch gut abgeklärt, da kann etwas dahinterstecken.

Die dritte sehr wichtige Möglichkeit ist das sogenannte Mastzellenaktivierungssyndrom. Mastzellen sind Immunzellen, die Histamin und andere Entzündungsbotenstoffe produzieren. Diese Zellen sind bei ME/CFS und Long Covid oft überaktiv und das kann dann zu verschiedensten Problemen wie eingeschränkter Verdauung, Kreislaufproblemen, Gelenkschmerzen, ein benebeltes Gefühl und Juckreiz führen. Das Problem ist, es gibt keine wirklich verlässlichen Labormarker dafür.

Man kann das Übermaß an Botenstoffen nicht gut messen?

Die Erhöhungen sind oft nur flüchtig nachzuweisen. Die Messung ist deswegen oft aufwändig. Da geht es dann primär darum zuzuhören, welche Symptome die Patienten beschreiben und zu wissen, dass das nach viralen Erkrankungen recht häufig ist. Da kann man drei bis vier Wochen lang pragmatisch harmlose, billige Antihistaminika geben. Wenn es nicht hilft, lässt man es wieder weg.

Antihistaminika sind als Antiallergiemittel gut etabliert, weil sie spezielle Rezeptoren blocken, die die Histamin-Wirkung hemmen.

Da verliert man nicht viel. Allein diese drei Dinge wären bei ME/CFS ein Riesenschritt. Dann gibt es noch ein paar weitere Möglichkeiten.

Wonach schauen Sie noch?

Man sollte unbedingt immer auch Hinweise auf eine Fehlfunktion des sogenannten autonomen Nervensystems untersuchen, [das Körperfunktionen wie die Herzfrequenz und die Atmung steuert, Anm. d. Red.]. Das haben viele nicht auf dem Radar, auch weil das autonome Nervensystem leider den Messmethoden oft nicht so ganz gut zugänglich ist.

Wie findet man dann diese sogenannte Dysautonomie und wie zeigt sie sich?

Ein Beispiel hatten wir mit dem posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom, dieser häufigen Fehlfunktion der Kreislaufregulation. Dann kommt zu wenig Sauerstoff ins Gewebe und das wird man dann als eingeschränkte Leistungsfähigkeit spüren. Man fragt auch klinisch die typischen Funktionen des autonomen Nervensystems ab wie trockener Mund und Augen, verändertes Schwitzen, Verstopfung, Störungen der Sexualfunktion, Probleme der Blasenentleerung und Störungen der Temperaturregulation. Wenn mehrere davon auffällig sind, ist eine Dysautonomie durchaus wahrscheinlich. Manches davon, wie das Schwitzen, kann man auch messen.

Was brauchen Sie als Arzt, um Patienten mit ME/CFS und Long Covid besser behandeln zu können?

Das große Problem bei ME/CFS ist, dass wir den einen Mechanismus nicht kennen, der dem zugrunde liegt. Wir müssen anhand von Symptomen diagnostizieren und es gibt vermutlich unterschiedliche Ursachen, die ein sehr ähnliches klinisches Bild verursachen. Ich bin an in einem Projekt der Universität Wien beteiligt, bei dem man anhand von Fragebögen versucht, klinische Untertypen auseinanderzuhalten und zu schauen, was die möglichen Ursachen sind.

Davon hängen die Therapien ab?

Ja. Es gibt viele Hypothesen. Dass es eine Autoimmunreaktion sein könnte, ist eine davon. Solche Antikörper finden sich bei 30 bis 70 Prozent der Betroffenen. Ob sie wirklich die grundlegende pathophysiologische Relevanz haben, ist noch nicht klar. Aber wer zum Beispiel Auto-Antikörper hat, dem könnte das Mittel BC007 [von Berlin Cures, Anm. d. Red.] helfen. Wenn man keine Auto-Antikörper hat, macht es keinen Sinn.

Wenn die Studien zeigen, dass BC007 funktioniert, dann wird die Pharmaindustrie sich dafür interessieren. Dann bin ich halbwegs optimistisch, dass in den nächsten Jahren neue Medikamente gefunden werden. Das hat man auch bei der Multiplen Sklerose gesehen. Vor 30 Jahren hatte man nichts und jetzt gibt es zahlreiche Medikamente, mit denen man oft diese schwere neuroimmunologische Erkrankung zum Stehen bringen kann.

Bis dahin behandeln Sie mit existierenden Medikamenten, die Sie off-label geben?

Ich gebe niemanden Heilsversprechen, das kann ich nicht. Im Normalfall lässt nichts die Symptome verschwinden. Aber es geht einfach darum, dass man zumindest eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit erzeugen kann. In der Leitlinie der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin gibt es jetzt einen Zusatz zum Chronic Fatigue Syndrom, wo im Prinzip das, was ich pragmatisch versuche, drinsteht. Wir können nicht darauf warten, dass Evidenz generiert wird und machen derweil nix!

(vsz)