Corona aus dem Labor? Wie eine junge Postdoktorandin die Theorie am Leben hielt

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So gesehen klingt die Auslassung sehr verdächtig. Ist sie das aber auch? Zwei andere prominente Arbeiten, die zu den ersten gehörten, die das Virus beschrieben, erwähnten die Furin-Spaltstelle ebenfalls nicht. Aber andere Forscher fanden sie sofort im Genom, das zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon öffentlich war. Für Stuart Neil, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am King's College London, ist das Versäumnis definitiv "merkwürdig" – aber es gibt auch andere, weniger problematische Erklärungen. Vielleicht waren die Forscher einfach in Eile, sagt er. "Sie haben nichts verheimlicht; sie haben es nur nicht weiter kommentiert".

Forscher haben die eine wiederkehrende Implikation von Chans Kommentar zur Kenntnis genommen: dass es nicht nur einen Laborunfall gab, sondern dass China ihn aktiv vertuschen muss, mit der unwissentlichen Hilfe von ausländischen Wissenschaftlern, die zu viel Angst haben, harte Fragen zu stellen. "Jede Art von Laborherkunft müsste auf eine massive Verschwörung von Wissenschaftlern, Ärzten und dem öffentlichen Gesundheitswesen zurückgehen", meinte Forscher Kristian Andersen vom Scripps Institute, der sich häufig mit Chan auf Twitter stritt. Dennoch, so Andersen, sei mehr als ein Jahr später noch kein glaubwürdiger Whistleblower aus China aufgetaucht. Chan kann dafür allerdings Gründe anführen. In einen Laborunfall müssten nicht viele Menschen verwickelt sein. Viele Pannen in der Forschung würden stillschweigend "bereinigt" und nie erwähnt. Die chinesische Polizei habe auch versucht, Ärzte daran zu hindern, über das Virus öffentlich zu reden; einige Bürgerjournalisten wurden wegen "Unruhestiftung" ins Gefängnis gesteckt. Jeder in China, der das Virus versehentlich freisetzte, so Chan, hätte reichlich Grund dafür zu schweigen, da "er oder sie getötet werden könnte".

Ende 2020 erreichte Chans Prominenz einen Höhepunkt. Wie zuerst in "Vanity Fair" berichtet, trafen sich Beamte der Rüstungskontrollabteilung des US-Außenministeriums am 7. Januar, dem Tag nach dem Sturm auf das Kapitol, auf Zoom, um Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit zu hören, dass das Virus aus einem Labor kam. Chan war einer von zwei Rednern, die ausgewählt wurden, um vor der Gruppe zu sprechen. Der andere Forscher war Steve Quay, ein Arzt und CEO von Atossa Therapeutics, einem börsennotierten Biotechnologie-Unternehmen, das Gesundheitsinformationen über seine Website vertreibt. Quay meinte, er sei "zu 99 Prozent sicher", dass das Virus aus einem Labor stammt.

Chan meint, dass sie sich zunächst dagegen gesträubt habe, das Außenministerium zu informieren, und dass sie überrascht war, wie wenig die US-Regierung tatsächlich wusste. Es scheint keine geheimen Abhöraktionen oder Überläufer zu geben, die alles berichten. Stattdessen schienen sich die Ermittler der Trump-Ära auf Twitter-Hinweise und Quellen zu verlassen, die keine ausgebildeten Virologen waren. Dies führte zu einer erhitzten Debatte unter den Beamten darüber, ob die Hinweise glaubwürdig waren. Zwei durchgesickerte Memos erzählen von einigen dieser Debatten. Eines der Memos verteidigt Quays Zuverlässigkeit mit der Begründung, er sei ein "Biotech-Unternehmer mit 78 Patenten auf seinen Namen" und lobt Chan für ihr "tiefes Wissen über chinesische Doppelzüngigkeit und mangelnde Transparenz".

"Ich denke, das sagt mehr über sie aus als über mich", kommentiert sie lachend. Chan hat keine besondere Expertise zum Thema China. Sie kann zwar Chinesisch lesen, was sie in Singapur gelernt hat, aber ihr gesprochenes Mandarin ist so schlecht, dass Kellner im China-Restaurant sie manchmal bitten, auf Englisch zu bestellen. Sie bestreitet auch, dass sie eine besondere Animosität gegen China hegt. "Ich habe nie in China gelebt", sagt sie. "Keiner meiner Eltern spricht Chinesisch als Muttersprache. Ich kenne nicht einmal jemanden in China. Ich denke, meine Haltung ist so normal, wie sie nur sein kann – ich mag die Kommunistische Partei Chinas nicht wegen ihrer Diktatur und der Lager für die Uiguren. Ich könnte auch die US-Regierung für Migrantenkinder in Käfigen an der Landesgrenze kritisieren." Das bedeute aber nicht, dass sie die Vereinigten Staaten "brennen sehen" wolle.

Chan schickte Technology Review eine Kopie ihres Slide Decks vom Briefing des Außenministeriums, mit einer Auflistung ihrer "Top 10". Von den 10 sind vier genetische oder biologische Argumente, allen voran die scheinbar fehlende Phase der Virusanpassung an den Menschen – auch wenn dieser Befund nicht allgemein anerkannt ist. Die anderen sechs beziehen sich auf angeblich verdächtiges Verhalten chinesischer Wissenschaftler, darunter die Nichterwähnung der 2012 gestorbenen Bergleute und der Furin-Spaltstelle auf dem Virusgenom. Jeder Staatsanwalt im Gerichtssaal würde diese Punkte als Indizien für ein "Bewusstsein von Schuld" erkennen, ein juristisches Konzept, das Handlungen wie das Vortäuschen eines Alibis, die Zerstörung von Beweisen oder die Bedrohung eines Zeugen umfasst. Wie Chans Co-Referent Quay in seinem Vortrag, der in eine ähnliche Richtung ging, sagte, würde kein "unschuldiger" Virologe solche Versäumnisse begehen.

Im März 2021 waren China und die Weltgesundheitsorganisation bereit, das Ergebnis einer gemeinsamen, offiziellen Herkunftsuntersuchung zu präsentieren, die zu dem Schluss kam, dass ein Fledermausvirus, das sich Tiere eingefangen hatten, die vom Menschen konsumiert werden, die wahrscheinliche Ursache war. Ein Laborunfall wurde als "extrem unwahrscheinlich" abgetan. Zu dieser Schlussfolgerung kam das Team aufgrund der Behauptung Chinas, dass sich niemand im Labor mit dem Virus angesteckt oder jemals zuvor mit SARS-CoV-2 gearbeitet habe. Die Untersuchungsgruppe sagte, sie würde die Theorie nicht weiter verfolgen. Obwohl diese Schlussfolgerung nicht gut ankam, sogar innerhalb der WHO. Deren Chef, Tedros Adhanom Ghebreyesus, reagierte, indem er sagte, dass "alle Theorien offen" bleiben müssten.

Chan hatte inzwischen eine wachsende Gruppe wissenschaftlicher Verbündeter um sich geschart, die ihre Verdachtsmomente teilten oder eigene hatten. Am 1. April schickte sie eine E-Mail an Stanford-Forscher Relman und Jesse Bloom, einen Virologen am Fred Hutchinson Cancer Research Center, in der sie vorschlug, eine Erklärung zu organisieren, in der eine vollständige Untersuchung gefordert wird, die Zugang zu offenen Laborbüchern in China und anderen Rohdaten haben müsse – genau jene, die ihr selbst bei den Schuppentierenstudien verweigert worden waren. In Verbindung mit der allgemeinen Kritik am WHO-Bericht kam schließlich ein Brief zustande, in dem 18 Forscher – darunter Relman, Bloom und Ralph Baric, ein Top-Coronavirus-Experte an der Universität von North Carolina – entsprechende Forderungen aufstellten. Mit dem Gewicht dieser hochrangigen Namen, zusätzlich zu dem von Chan, erschien das Werk schnell in der Zeitschrift "Science".

Seit der Veröffentlichung des Briefes haben sich die Standpunkte in der Laborfrage noch weiter verschoben. Zahlreiche Wissenschaftler haben öffentlich die Seiten gewechselt. Einer der Unterzeichner des "Lancet"-Briefes aus dem Jahr 2020, der die Lab-Leak-Hypothese als Verschwörungstheorie anprangerte, hat seine Meinung komplett geändert. Er ist jetzt sicher, dass das Virus durch einen schlampigen Fehler irgendwo in Wuhan freigesetzt wurde. Der Brief hat auch dazu beigetragen, die Labortheorie von ihrer Verbindung zu Donald Trump, Fox News und verschiedenen konservativen Funktionären zu befreien, die sie im letzten Jahr enthusiastisch verbreitet hatten.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Briefes ordnete der neue demokratische US-Präsident Joe Biden an, eine neue Untersuchung zu starten. "Ich habe nun die Geheimdienstgemeinschaft gebeten, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um Informationen zu sammeln und zu analysieren, die uns einer endgültigen Schlussfolgerung näher bringen könnten, und mir in 90 Tagen Bericht zu erstatten", sagte er. Nun, da die Theorie des Laborursprungs von mächtigen Organisationen untersucht und von einer kritischen Masse angesehener Wissenschaftler ernst genommen wird, bleibt die Frage, wie sich Chan fühlen würde, wenn sich nun herausstellt, dass das Virus auf natürliche Weise entstanden ist, was die meisten Wissenschaftler immer noch für wahrscheinlich halten.

"Ich habe Tage, an denen ich denke, dass es natürlichen Ursprungs sein könnte. Und wenn es natürlich ist, dann hätte ich etwas Schreckliches getan, weil ich viele Wissenschaftler in eine sehr gefährliche Lage gebracht habe", sagt sie. "Indem ich sie als die Auslöser eines Unfalls tituliert habe, der dazu führte, dass Millionen von Menschen starben", sagt sie. "Wenn es sich dann als natürlich erweist, würde ich mich furchtbar fühlen."

(bsc)