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Daten gegen Hunger

Alexander Stirn, Ronja Gysin

Wo fehlt Dünger, wo drohen Dürren? Satelliten sollen der Landwirtschaft bessere Erträge ermöglichen – und dabei auch noch die Steuerung der Traktoren übernehmen.

Die Zeiten, als Landwirte morgens aus dem Fenster guckten und spontan entschieden, was auf ihren Feldern zu tun ist, sind vorbei. Künftig schauen Landwirte auf ihre Computermonitore. Auf die Felder blicken stattdessen andere – aus mehreren Hundert Kilometern Entfernung.

8/2017

Satelliten sind auf dem besten Weg, die Landwirtschaft zu revolutionieren. Sie erkennen aus dem All, welche Feldfrüchte angebaut werden, wie rasch sie wachsen, wie es um Wasser- oder Stickstoffgehalt des Bodens bestellt ist – und wo nachgeholfen werden muss.

"Die Landwirtschaft wird dadurch mehr und mehr zu einem datengetriebenen Geschäft", sagt Heike Bach, Chefin der Münchner Vista GmbH, die Satellitendaten für Landwirtschaft und Gewässerkunde aufbereitet.

Die Späher aus dem All zeigen aber auch, wo Ernteausfälle wegen Dürre oder Überschwemmungen drohen, wo Erosion den fruchtbaren Boden abträgt oder wo ungeeignete Feldfrüchte angebaut werden. Sie werden somit zu einem wichtigen Instrument im Kampf gegen den weltweiten Hunger.

Noch ist die Abdeckung des Globus nicht perfekt. Ein kalifornisches Start-up will das jedoch ändern. Planet Labs hat im Februar 88 Erdbeobachtungssatelliten auf einen Schlag gestartet. [10] Jeder einzelne dieser sogenannten Cubesats ist 30 Zentimeter lang und hat eine Höhe sowie eine Breite von zehn Zentimetern.

Trotzdem sollen die Mini-Satelliten, Dove ("Taube") genannt, eine Auflösung von bis zu fünf Metern am Erdboden erreichen. Mittlerweile ist die Flotte von Planet Labs auf 149 Späher angewachsen. "Damit haben wir unser erstes großes Missionsziel erreicht", sagt Planet-Labs-Gründer Robbie Schingler: "Wir können jeden Ort auf den Landmassen der Erde an jedem Tag aufnehmen."

Sie bieten damit eine Lösung, die für viele Anwendungen in der Landwirtschaft entscheidend ist. Wer als Landwirt wissen will, in welcher Ecke seiner Felder er düngen oder bewässern muss, braucht aktuelle Daten. Doch klassische Satelliten sind dafür zu träge. Um Felder oder sogar einzelne Schollen zu sehen, müssen Satelliten in möglichst geringer Höhe über dem Erdboden unterwegs sein – 800 bis 1000 Kilometer haben sich als sinnvoll erwiesen.

Damit geht jedoch ein Nachteil einher: Im Gegensatz zu Wettersatelliten, die in knapp 36.000 Kilometern Höhe am Äquator unterwegs sind und dadurch stets über demselben Punkt des Globus zu verharren scheinen, sind niedrig fliegende Satelliten ständig in Bewegung. Denn in geringerer Höhe ist die Erdanziehung stärker. Um das zu kompensieren, sind größere Fliehkräfte nötig – die mit höheren Umlaufgeschwindigkeiten erzeugt werden. So treiben die Satelliten um die Erde. Bis sie einen bestimmten Punkt auf der Erdoberfläche das nächste Mal überfliegen und dabei ablichten können, vergehen viele Tage, manchmal sogar Wochen.

Das Manko gilt auch für die neuesten Mitglieder im Erdorbit, die beiden Sentinel-2-Späher der europäischen Weltraumbehörde Esa. Sie brauchen, obwohl sie im Doppelpack unterwegs sind, fünf Tage, um dieselbe Region erneut aufzunehmen – und dann dürfen keine Wolken im Weg sein, sonst fällt das Foto aus. Da sind die "Tauben" von Planet Labs deutlich flexibler.

Die Gesetze der Physik können die Planet-Labs-Macher allerdings auch nicht aushebeln. Ihre Cubesats sind mit einer nur zehn Zentimeter großen Optik bei Weitem nicht so leistungsfähig wie die Sentinel-Satelliten, die mit ihren 13 Kanälen eine tiefgreifende Analyse der Daten ermöglichen, oder wie die großen kommerziellen Erdbeobachtungssatelliten, die Auflösungen von 30 bis 50 Zentimetern erreichen.

Die neue Sentinel-Flotte besteht derzeit aus vier Satelliten. Zum einen die beiden Sentinel-1-Satelliten, seit 2014 beziehungsweise 2016 im Orbit. Sie beobachten die Erde im Radarlicht. Ihr Blick durchdringt somit Wolken und zeigt unter anderem, wie nass der Boden ist. Durch Überlagerungen mehrerer Radarbilder, die zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen worden sind, ist es zudem möglich, die Wachstumsgeschwindigkeit von Pflanzen zu bestimmen.

Und zum anderen das Paar Sentinel-2A und Sentinel-2B, das 2015 und 2017 ins All gebracht wurde und den Erdboden im Bereich des sichtbaren und infraroten Lichts im Visier hat. Dreizehn schmale Wellenlängenbereiche, sogenannte Spektralbänder, werden in etwa 800 Kilometern Höhe registriert. Das Licht jeder Pflanze erzeugt in diesen Bändern einen charakteristischen Fingerabdruck, der Rückschlüsse auf die angebauten Feldfrüchte erlaubt.

Die Signale verraten zudem, wie hoch der Stickstoffgehalt ist und wie groß die Blätter sind, die das Licht reflektieren. Forscher und Landwirte können daran erkennen, ob das Wachstum der Pflanzen wie erhofft fortgeschritten ist. Vor allem Besitzer riesiger Farmen, wie im Mittleren Westen der USA, wo die durchschnittliche Feldgröße bei knapp 150 Hektar liegt, profitieren von den Daten – schließlich können sie, im Gegensatz zum Kleinbauern, den Zustand ihrer Felder nicht permanent kontrollieren.

Gelingt die Verknüpfung der Satellitendaten mit weiteren Informationen vom Boden, dürften völlig neue Erkenntnisse warten. Das Pilotprojekt AgriFusion etwa will beweisen, dass Landwirte künftig schon bei der Aussaat Prognosen darüber erhalten können, welche Ernte am Ende wartet. An drei Teststandorten in Mecklenburg-Vorpommern, Bayern und Brandenburg sammeln Wissenschaftler des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) Fernerkundungsdaten von Sentinel-1 und -2, Flugzeugen oder Drohnen und verknüpfen diese mit digitalen Geländemodellen, Boden- und Klimaparametern sowie Ertragszahlen aus der Vergangenheit.

"Die Fernerkundungsbilder helfen etwa, Aussagen zu Grundwasservorkommen, Vitalität der angebauten Sorten und dem Bedeckungsgrad des Feldes zu treffen", erklärt Daniel Spengler, Geograf am GFZ. Bei Nährstoffmangel, Schädlingsbefall oder Krankheit produzieren Pflanzen weniger Chlorophyll, was zur Folge hat, dass sich die Reflexion elektromagnetischer Strahlung verändert. So erkennen Satelliten Probleme frühzeitig, und Landwirte können schnell reagieren.

"Ziel ist es, das langfristige Ertragspotenzial von Teilflächen – circa 30 mal 30 Meter – vorauszusagen und gleichzeitig den Einsatz von Saaten, Düngemitteln und Wasser effizienter zu machen", so Spengler. "Es entstehen Ertragspotenzialkarten, die Landwirte als Entscheidungshilfe heranziehen können." Etwa wenn es darum geht, welche Getreide- oder Gemüsesorten sie anbauen, wie oft der Boden beim aktuellen Wachstumszustand der Pflanzen bearbeitet werden sollte oder wie viel Dünger und Saatgut für jeden Feldabschnitt nötig ist.

Vorläufig profitieren allerdings nur ausgewählte Testbetriebe von AgriFusion. Sie unterstützen die Wissenschaftler darin, das Verfahren praxistauglich zu machen und die gesammelten Daten miteinander zu verknüpfen. Spätestens in drei Jahren soll ein Webmodul verfügbar sein, das Landwirten in Deutschland Daten zu Bodenbeschaffenheit, Sonneneinstrahlung und Pflanzengesundheit liefern kann. Die Augen im All sind damit ein weiterer Schritt hin zu einer Entwicklung, die Firmen wie Vista "Smart Farming" nennen: schlauen Ackerbau.

Die Landmaschinen der Zukunft wissen beispielsweise, welcher Teil eines Felds wie stark gedüngt werden muss. "Wenn wir so die Umweltbelastung durch den Ackerbau reduzieren, profitiert davon die gesamte Gesellschaft", sagt Vista-Chefin Heike Bach. Der Landwirt kann derweil, wenn er will, vom Fenster aus zuschauen: Die Maschinen der Zukunft werden in der Lage sein, vollautomatisch loszuziehen.

Doch nicht nur einzelne Felder, auch die globale Nahrungsmittelversorgung soll von den Spähern aus dem All profitieren. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen beobachtet zum Beispiel gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), wie sich die Vegetation weltweit verändert, wo die Bodenqualität abnimmt, wo Überschwemmungen oder Dürren zu erwarten sind.

Droht ein Engpass, können andernorts vermehrt Pflanzen angebaut oder die Nahrungsmittelpreise subventioniert werden. "Erstmals erlauben diese Daten, auf nationaler Ebene Ernährungskarten mit aktuellen, akkuraten und detaillierten Informationen zu erstellen", sagt Francesco Holecz, Gründer des Schweizer Unternehmens Sarmap, das sich auf Satellitendaten von Reisfeldern spezialisiert hat.

So entdeckte Sentinel-1A Anfang 2016, dass die Reisproduktion im vietnamesischen Mekongdelta, einem der wichtigsten Anbaugebiete der Welt, drastisch abgenommen hat – ausgelöst durch den niedrigsten Wasserstand seit 90 Jahren. Da der Satellit dank seiner Radartechnik Feuchtgebiete besonders gut identifizieren kann, erkannten die Forscher, dass die Anbaufläche gegenüber dem Vorjahr um mehr als 270 000 Hektar geschrumpft sein musste – eine Abnahme um 16,7 Prozent.

Dieses Jahr könnte sich Ähnliches für Hirse in Australien wiederholen. Die Sentinel-Daten verrieten, dass die dortige Hirseernte dieses Jahr so schlecht ausfallen dürfte wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr, sagt Jacques Delincé, Chefstatistiker bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Satelliten haben einen ungewöhnlich trockenen Boden ausgemacht, und der ist Gift für die Hirse.

(bsc [11])


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