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Dein Auto beobachtet dich

Christian Buck

Forscher tüfteln an Autos, die auf den Aufmerksamkeitspegel und die Gefühlslage ihrer Insassen reagieren können.

Von Cape Agulhas, dem südlichsten Punkt Afrikas, zum Nordkap an der Spitze Norwegens in gerade mal neun Tagen: Mit dieser 18 000 Kilometer langen Rekordfahrt durch 21 Länder verewigten sich der Profi-Abenteurer Rainer Zietlow und seine beiden Co-Piloten Marius Biela und Sam Roach im September 2015 in den Geschichtsbüchern. Die "Cape2Cape"-Tour lieferte aber nicht nur schöne Bilder von afrikanischen Sandpisten und schwedischen Wäldern – die Sensorik an Bord des VW Touareg erfasste auch permanent Daten, die während der Fahrt in eine Cloud von Hewlett Packard Enterprise (HPE) übertragen und dort ausgewertet wurden. Darunter waren Steuersignale und Statusinformationen des Fahrzeugs, aber auch biometrische Daten der Menschen an Bord.

8/2017

Allein die Fahrer lieferten Datensätze im Umfang von mehr als drei Gigabytes. Aus Herz- und Atemfrequenz ließ sich der aktuelle Stresslevel der Piloten ermitteln und mittels GPS-Daten mit konkreten Fahrsituationen verknüpfen (siehe Karte). Anhand der Daten weniger Sensoren war es sogar möglich, die drei Piloten an ihrem Fahrstil zu erkennen. Die HPE-Ingenieure nutzten den Bremsdruck, die Motordrehzahl, den Lenkwinkel, die Lenkdynamik, die Gaspedalstellung und die Beschleunigung der Räder. "Die Genauigkeit lag bei 76 Prozent, wenn wir jede Sekunde gemessen haben", berichtet Chris Meering, Experte für das Internet der Dinge bei HPE. "Sie verbesserte sich auf 87 Prozent, wenn wir die Daten eine Minute lang aggregiert haben."

Dein Auto beobachtet dich

Bei der Cape2Cape-Autotour von Südafrika bis zum Nordkap ermittelte Hewlett Packard Enterprise aus Herz- und Atemfrequenz den Stresspegel der Fahrer. Das Ergebnis: Am entspanntesten fuhr es sich auf den Straßen Schwedens und Finnlands (hellgrün), auch in westafrikanischen Ländern wie Sambia und Tansania war der Verkehr wenig nervenaufreibend (mittelgrün). Südafrika, Kenia, die Türkei, Deutschland und Norwegen lagen im Mittelfeld (hellbraun), den höchsten Stress empfanden die Piloten in Ägypten (rot)

Die nötige Technik ist schon heute in jedem Auto eingebaut. So dürfte die permanente Überwachung des Menschen hinter dem Steuer schon bald zum Alltag gehören. Erste Ausläufer sind bereits im Markt angekommen: Versicherungspolicen, deren Prämien vom Fahrverhalten des Kunden abhängen. So bietet die Allianz jungen Autofahrern unter 29 Jahren die "Telematik-Versicherung" BonusDrive an. Eine App erfasst das Fahrverhalten und berechnet daraus einen Score, der die Umsicht des Kunden bewertet – wobei etwa starkes Beschleunigen und Abbremsen als Anzeichen für eine eher aggressive Fahrweise gelten. Wer dagegen zurückhaltend auf die Pedale drückt, kann bei der Versicherungsprämie bis zu 30 Prozent sparen.

Der Autohersteller Ford hat ebenfalls eine App entwickelt, um das Verhalten von Pkw-Fahrern zu protokollieren und daraus einen Score zu berechnen. Vier Monate lang zeichnete die Software in 40 Londoner Kleinwagen Daten wie Lenkradbewegungen, Benutzung der Bremsen, das Wetter oder die Zeiten der Autofahrten auf. Nach jedem Trip konnten sich die Fahrer ihren Score ansehen und daraus für die nächste Fahrt lernen. Für Autobauer seien solche Informationen generell interessant, erklärt HPE-Mitarbeiter Chris Meering. "Sie könnten einem Kunden dann beispielsweise eine Probefahrt in einem neuen Automodell anbieten, das besonders gut zu seinem Fahrstil passt."

Doch das ist erst der Anfang. Die Zukunft soll Autos gehören, die den Zustand ihrer Passagiere nicht nur registrieren, sondern sich auch darauf einstellen. Der Automobil-Entwicklungspartner IAV arbeitet beispielsweise daran, die Stimmung der Fahrzeuginsassen zu erkennen und die Innenraumbeleuchtung automatisch daran anzupassen.

"Mit Sensoren in Pulsuhren oder über Eye-Tracking-Systeme im Fahrzeug können wir erkennen, ob ein Mensch gerade in einem wachen oder in einem ermüdeten Zustand ist", sagt Christoph Kielmann von IAV. Auf der Messe CES in Las Vegas zeigte das Berliner Unternehmen Anfang des Jahres ein Versuchsfahrzeug, dessen LEDs im Innenraum je nach Stimmung seiner Passagiere unterschiedliche Lichtszenarien erzeugen können – etwa einen Sternenhimmel. Der Autokonzern Audi forscht an ähnlichen Konzepten. Im Projekt "Audi Fit Driver" entwickeln Ingenieure seit zwei Jahren eine Automatik, um den Stress des Fahrers zu mindern.

Aus Informationen von der Fahrzeugsensorik – etwa über die Lenkbewegungen – und Herz-Kreislauf-Daten von einem Fitnessarmband oder einer Smartwatch ermittelt das System den Anspannungsgrad des Fahrers. Ist der Stresspegel sehr hoch, schlägt es über eine zugehörige App Gegenmaßnahmen vor, beispielsweise eine Atemübung zur Entspannung oder – wirklich ernst gemeint – eine Massage über ein im Sitz integriertes System.

Auch am Forschungszentrum Informatik (FZI) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ist man den Emotionen der Autonutzer auf der Spur. Die Messung der Pulsvariation soll etwa Hinweise auf den Stresslevel des Fahrers liefern – wobei die Forscher inzwischen sogar auf den Brustgurt zum Erfassen der EKG-Signale verzichten können. "Eine Kamera misst die Farbänderung der Haut und liefert uns so den Puls", berichtet Professor Wilhelm Stork vom FZI. "Ihre Bilder erlauben uns auch Rückschlüsse darauf, wie wach der Fahrer ist: Blinzelt er mit hoher Frequenz, ist er agil. Schließen sich seine Lider langsam, ist er schläfrig."

Beim teilautonomen Fahren ließe sich auf diese Weise zum Beispiel erkennen, wie aufmerksam der Fahrer gerade den Verkehr verfolgt und wie lange es dauern wird, ihm die Kontrolle über das Fahrzeug wieder zurückzugeben – etwa an einer Fahrbahn-Engstelle. Derzeit testen die Karlsruher Wissenschaftler ihr System gemeinsam mit einem Automobilzulieferer und können Mimik und Puls bereits zuverlässig erkennen – zumindest tagsüber; nachts, wenn vermehrt Störsignale wie das Licht entgegenkommender Autos auftreten, arbeitet die Technik noch nicht fehlerfrei. "Dennoch könnte unser System schon in den nächsten zwei Jahren in die Umsetzung gehen", so Stork.

Um ein ähnliches Szenario geht es auch im Forschungsprojekt PAKoS (Personalisierte, adaptive kooperative Systeme für automatisierte Fahrzeuge). Kameras im Innenraum erfassen sowohl Mimik als auch Körperhaltung des Fahrers, während sein Auto phasenweise autonom fährt. Hat er die Hände am Lenkrad? Liest er gerade eine E-Mail?

"Aus seiner Körperhaltung können wir mathematisch recht präzise berechnen, wie lange der Fahrer braucht, um an einer Baustelle oder an einer Autobahnausfahrt wieder zum Lenkrad zu greifen", erklärt Michael Flad vom KIT, wo das Projekt koordiniert wird. "Schwieriger ist es, das mentale Umschalten vorherzusagen – also die Zeit, die er benötigt, um sich etwa vom E-Mail-Schreiben wieder aufs Fahren zu konzentrieren. Sie soll aus Versuchen bestimmt werden."

Am Ende könnte ein Profil des Fahrers entstehen, das er in jedes Auto mitnehmen kann und sein individuelles Fahrverhalten beschreibt. 2019 soll ein PAKoS-Versuchswagen verfügbar sein und als Basis für eine Serienentwicklung dienen.

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(bsc [12])


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