Die Geschichte von Linux

Seite 2: Der große Hype

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Die bösen Sprüche aus Redmond konnten das PC-Unix, das seinen Wurzeln in der x86-Architektur längst entwachsen war, freilich nicht aufhalten.IBM kündigte eine große Linux-Initiative an, und auf der CeBIT 1999 erteilte SAP dem freien Betriebssystem mit einer Linux-Version seiner ERP-Suite R/3 gewissermaßen den Ritterschlag. Die Linux-Portierung auf den IBM-Großrechner S/390 (heute z-Series) Ende 1999 bewies einmal mehr die ungeheure Flexibilität des freien Betriebssystems – nicht wenige Analysten glauben, dass Linux IBMs Mainframe gerettet hat. Im Jahr darauf erschien mit dem Suse Linux Enterprise Server die erste explizite Unternehmensdistribution – für IBM-Mainframes. Die x86-Version von SLES folgte 2001.

Aber auch am anderen Ende der Hardware-Skala gewann Linux an Popularität: Schon 1998 hatte Compaq einen Handheld-Computer namens Itsy vorgestellt, der mit Linux lief – gewissermaßen der Vorläufer der heutigen Android-Smartphones und -Tablets. Im März 2000 gründete sich das Embedded Linux Consortium (ELC) mit dem Ziel, eine Spezifikation für Embedded Linux zu entwerfen.

Überhaupt war die Jahrtausendwende die Zeit des großen Linux-Hypes: Red Hat legte 1999 als erste Linux-Firma einen fulminanten Börsenstart hin; die Aktie vervierfachte ihren Wert am ersten Handelstag (musste aber später, nach dem Platzen der .com-Blase, ordentlich Federn lassen). Das Linux Professional Institute LPI veröffentlichte 2000 sein erstes distributionsunabhängiges Linux-Examen. Um zu verhindern, dass Linux die Unix-Geschichte wiederholt und in zahlreiche inkompatible Linux-Versionen zersplittert, wurde im gleichen Jahr die Free Standards Group gegründet mit dem Ziel, einen Linux-Standard zu schaffen (mittlerweile ist die Free Standards Group – wie auch das ELC – in der Linux Foundation aufgegangen). Im Dezember 2000 verkündete IBM, 2001 eine Milliarde US-Dollar in Linux investieren zu wollen.

Mit dem Kernel 2.4 stieß Linux Anfang 2001 schon in die Sphären der kommerziellen Unix-Varianten vor: leistungsfähiger SMP-Betrieb bis acht Prozessoren, 64 GByte RAM auf x86-Prozessoren, Raw Devices, ein 64-Bit-Dateisystem. Firewire- und USB-Support, ACPI und Plug & Play für die damals noch gängigen ISA-Karten machten den neuen Kernel auch für den Desktop- und Notebook-Einsatz attraktiv. Zunehmend engagierten sich Hardware-Hersteller wie Intel und AMD bei der Linux-Entwicklung: Eine gute Linux-Unterstützung wurde im Server-Gerschäft immer wichtiger. 2002 brachte Red Hat sein erstes Enterprise Linux auf den Markt.

Mit dem zunehmenden Erfolg von Linux begannen immer mehr Unternehmen und öffentliche Verwaltungen, über die Vorteile von Open-Source-Software nachzudenken. 2003 beschloss beispielsweise die Deutsche Bahn, Linux als strategische Serverplattform einzusetzen – eine Entscheidung, die heute noch gilt. Im gleichen Jahr entschied der Münchner Stadtrat, die 15.000 Rechner der Stadtverwaltung auf Linux-Desktops umzustellen – im April dieses Jahres feierte man Bergfest: Die Hälfte der Rechner sind auf den Münchner LiMux-Client umgestellt. Im Auswärtigen Amt begann man schon 2001 mit der Einführung von Open-Source-Software, ab 2005 wurden Desktops auf Linux umgestellt – das Projekt scheiterte aber letztlich. Die ab 2003 ausgerollten Linux-Desktops in der Stuttgarter Versicherungsgruppe sind allerdings heute noch im Einsatz.

Doch trotz einiger prominenter Beispiele: Auf breiter Front konnte sich der Linux-Desktop nie durchsetzen (Gründe dafür nennt Chris Schläger, Chef der Betriebssystem-Labors von AMD, in diesem Artikel). Das bis 2006 oder 2007 immer wieder ausgerufene "Jahr des Linux-Desktops", das jetzt anbrechen sollte, fand nicht statt. Daran konnte auch die dedizierte Desktop-Distribution Ubuntu nichts ändern, die ab 2004 zwar die Linux-Welt ordentlich aufmischte, aber gegenüber Windows nicht wirklich punkten konnte. Erfolgreich ist Linux auf dem Server – und auf Embedded Devices. Als Android, Googles Smartphone- und Tablet-System mit Linux-Kernel, 2008 auf den Markt kam, war Linux schon längst in der Maschinensteuerung, in WLAN-Routern, DVD-Playern und Navis etabliert.

Im Dezember 2003 machte der Linux-Kernel den Sprung auf Version 2.6. Die brachte nicht nur die Sicherheitserweiterung SELinux, ein neues, über Sysfs zugängliches Gerätemodell und eine für moderne Hochleistungsrechner taugliche Speicherverwaltung, sondern auch eine grundlegende Überarbeitung des Kernel-Codes, die viele Limitierungen beseitigte und für eine übersichtlichere Strukturierung sorgte. Von den Aufräumarbeiten im Kernel-Code zehren die Entwickler bis heute: Selbst komplett neue Funktionen wie Virtualisierung und eine in jeder Hinsicht verbesserte Skalierung, dank der Linux auch auf den leistungsfähigsten Supercomputern läuft, ließen sich ohne große Verwerfungen einbauen.

Der Umfang des Linux-Kernels wächst kontinuierlich.

Mit Linux 2.6 änderte Torvalds das Entwicklungsmodell: Einen Entwicklerkernel gibt es nicht mehr, neue Features und Verbesserungen fließen nach und nach in Updates des aktuellen Kernels ein, die regelmäßig alle zwei bis drei Monate erscheinen. An die Stelle von Versionssprüngen, die immer wieder zu Durcheinander in der Umstellungsphase führten, ist ein stetiger Fortschritt getreten.

2005 erregte Xen, die erste Virtualisierungslösung für Linux, einiges Aufsehen in der Linux-Welt; aber es sollte noch geschlagene sechs Jahre dauern, bis der Xen-Code komplett in den Kernel integriert war. In der Zwischenzeit fand die alternative Lösung KVM (Kernel-based virtual machines), die den Linux-Kernel selbst zum Hypervisor macht, so viel Anklang unter den Kernel-Entwicklern, dass sie bereits Anfang 2007 in den Kernel 2.6.20 einzog.

Der zunehmende Erfolg von Linux im Serverbereich bescherte dem freien System eine jahrelange, geradezu unendlich erscheinende Geschichte: Die juristische Auseinandersetzung zwischen SCO und der Linux-Welt. Die Geschichte von SCO ist einigermaßen skurril: Der Anbieter einer kommerziellen Unix-Version für x86-PCs war im Jahre 2000 von dem Linux-Distributor Caldera übernommen worden – schon vor der Jahrtausendwende hatte Linux begonnen, am Marktanteil der teuren kommerziellen Unixe zu knabbern, und die Unix-Geschäfte von SCO gingen zunehmend schlechter.

Die Kombination aus einem etablierten Unix-Anbieter mit gut ausgebauter Vertriebsstruktur und einem erfahrenen Linux-Distributor schien alle Voraussetzungen zu bieten, den Markt für Linux in Unternehmen aufzurollen. Doch Caldera geriet immer mehr ins Hintertreffen gegenüber Konkurrenten wie Red Hat, die konsequent auf Linux und Open Source setzten. Zwei Jahre nach der Übernahme benannte sich Caldera in SCO Group um, ein halbes Jahr später wechselte das Unternehmen aus dem Linux- ins Klagegeschäft.

Im Frühjahr 2003 verklagte die SCO Group IBM auf eine Milliarde US-Dollar Schadenersatz. IBM habe Linux vorangetrieben und dabei nicht nur geistiges Eigentum von SCO gestohlen, sondern das freie Betriebssystem überhaupt erst zu einer ernsthaften Unix-Konkurrenz aufgepäppelt, so die Kernpunkte der Klage. Es folgten Drohungen, angebliche Beweise, Verzögerungen durch immer neue Anträge vor Gericht sowie Prozesse gegen Linux-Anwender und die Distributoren Red Hat und Novell – letzterer um das Copyright an Unix, das sowohl Novell als auch SCO für sich in Anspruch nehmen und das die Grundlage aller anderen SCO-Klagen ist. Im vergangenen Jahr sprach das Gericht Novell das Unix-Copyright zu, und es scheint, als sei die längst bankrotte SCO Group nun am Ende. Aber es wäre nicht das erste Mal in der langen Geschichte, dass der Schein trügt ...

Für Microsoft erwies sich der juristische Feldzug von SCO gegen Linux als Steilvorlage. Zunächst hatten Argumente wie die angeblich leichtere Administration und niedrigere Total Cost of Ownership (TCO) von Windows die pauschale Diffamierung von Linux und Open Source als Teufelszeug abgelöst. Ab 2004 nutzte Microsoft die rechtliche Unsicherheit, die die SCO-Klagen verbreiteten, und setzte auf die Karte "höhere Rechtssicherheit". Die Andeutung, Linux verletzte Microsoft-Patente, brachte so viel Unsicherheit in den Markt, dass IBM, NEC, Novell, Philipps, Sony und Red Hat 2005 das Open Invention Network zur Abwehr von Patentangriffen auf Linux gründeten. Obwohl bis heute kein Gericht darüber entschieden hat, ob Linux tatsächlich Microsoft-Patente verletzt, überweisen heute beispielsweise Anbieter von Android-Smartphones Lizenzgebühren nach Redmond. Aber im Smartphonemarkt wird derzeit sowieso mehr über Patente, Copyrights, Klagen und Wettberwerbsbschwerden konkurriert als über Technik.

Zum 20. gabs auch ein Glückwunsch-Video von Microsoft.

2006 akzeptierte Microsoft aber auch die Bedeutung von Linux im IT-Markt: Eine Kooperation mit Novell machte das Unternehmen selbst zum Linux-Distributor, das seinen Kunden sehr erfolgreich den Suse Linux Enterprise Server anbietet. Seit 2009 gehört Microsoft zu den Unternehmen, die gemeinsam den Linux-Kernel entwickeln – und gratulierte unlängst sogar mit einem Video zum zwanzigsten Geburtstag.

Seit 2007 kümmert sich die Linux Foundation, entstanden aus dem Zusammenschluss der Open Source Development Labs (OSDL) und der Free Standards Groups, um die Stärkung der Position von Linux im Wettbewerb. Die Stiftung, zu deren Mitgliedern nahezu alle Unternehmen gehören, die irgendwie mit Linux zu tun haben, hütet die Linux Standard Base, bezahlt zentrale Entwickler wie Linus Torvalds und kümmert sich um den Schutz der Marke Linux. Die Linux Foundation bietet letztlich eine neutrale Plattform, auf der auch Unternehmen, die im Markt konkurrieren, zusammenarbeiten können – ähnlich, wie sie das bei der Kernelentwicklung tun.

Der vor wenigen Wochen erschienene aktuelle Kernel 3.0 steht ganz in der mit Linux 2.6 eingeführten Tradition des stetigen Fortschritts: Er unterscheidet sich von seinem Vorgänger – Linux 2.6.39 – nicht stärker als zwei beliebige aufeinanderfolgende 2.6.x-Versionen. Linux 3.0 ist lediglich ein anderer Name für den eigentlich anstehenden Kernel 2.6.40. Die größte Änderung in Linux 3.0 ist das neue, zweistellige Nummerierungsschema: Auf den Kernel 3.0 wird Version 3.1 folgen.

Und wie sieht es mit der World Domination aus, von der Linus Torvalds vor vielen Jahren sprach, als Linux noch ein exotisches Hackerprojekt war? Dort, wo Torvalds den Erfolg vermutlich am ehesten erwartete – auf (Desktop-) PCs –, ist Linux nach wie vor eine Nischenlösung. In den Rechenzentren sieht es anders aus: Hier steht das freie Betriebssystem längst gleichberechtigt neben Windows und den kommerziellen Unix-Varianten. Das High-Performance-Computing dominiert Linux ganz klar, und auch im Internet – von Google über eBay bis Facebook – und in der Cloud kommt man an dem einstmaligen PC-Unix nicht vorbei. Mit Android ist Linux im brummenden Smartphone- und Tablet-Geschäft gut aufgestellt.

Linux hat die Idee, dass alle Interessierten in einem offenen Prozess gemeinsam eine Software entwickeln, populär gemacht – und bewiesen, dass das auch in einem so riesigen Projekt wie dem Linux-Kernel nicht nur funktionieren kann, sondern handfeste Vorteile bietet. Auch der Boom, den Open-Source-Software seit der Jahrtausendwende erlebt hat, dürfte zu einem erheblichen Teil in dem Erfolg von des freien Betriebssystems begründet sein.

Dank seiner Flexibilität wird sich Linux auch an neue Entwicklungen anpassen können, die die IT-Welt in den nächsten Jahren weiter verändern dürften. Oder, wie es Red-Hat-Chef Jim Whitehurst auf der LinuxCon anlässlich des zwanzigsten Geburtstags ausdrückte: "Die Leistungsfähigkeit [von Linux] liegt in dem, was die Leute damit anstellen können". In diesem Sinne: Auf die nächsten zwanzig Jahre. (odi) (odi)