Die IT frisst ihre Kinder

Seite 2: Strategische Fehler der Unternehmen

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Konkurrenz durch Automatisierung ist allerdings nur einer der Gründe für den Niedergang. Ein zweiter sind strategische Fehler in Indiens Unternehmen. Jahrelang haben IT-Firmen massenweise kostengünstige, fleißige Jugendliche eingestellt, selbst wenn diese schlecht ausgebildet waren, weil es sinnvoll war, einzelne Projekte mit viel Personal auszustatten. Denn je mehr Personal für ein Projekt engagiert wurde, desto mehr Kosten konnte man dem Kunden in Rechnung stellen. Doch immer mehr westliche Unternehmen machen dieses Spiel nicht mehr mit. Inzwischen zahlen Kunden nach Ergebnis und Wirkung. Nun sitzen die indischen Firmen auf Personalkosten, die sich nur noch schwer rechnen – zumal viele der schlecht ausgebildeten Arbeiter regelmäßig befördert und mit höheren Gehältern ausgestattet wurden.

Nicht alle Experten sind so pessimistisch. "Wann immer es eine Revolution gibt, gibt es auch die Sorge um weniger Jobs", sagt Ravi Kumar, Chef von Infosys. "Die Wahrheit ist jedoch, dass dadurch immer auch mehr Konsum entsteht." Das wiederum erhöhe die Nachfrage nach neuer Arbeit. Momentan geben die IT-Firmen 65 bis 70 Prozent ihres Budgets dafür aus, "nur um die Lichter anzubehalten" – also um die Infrastruktur und einen Routineservice aufrechtzuerhalten. Wenn dieses Geld frei werde, könnte es in neue, bislang unbekannte Erträge und Beschäftigungsverhältnisse fließen. "Das würde uns auf eine völlig neue Grundlage stellen."

Die Frage ist nur: Wird diese neue Grundlage stabil genug, um auch Sunil Kumar zu tragen, den ehemaligen Tech-Mahindra-Angestellten? Wird Indien in diesem neuen Zeitalter genug Gewinn für sich abzweigen können? Momentan sieht es nicht danach aus, auch wenn Finanzminister Arun Jaitley gerade ein riesiges KI-Programm verkündet hat. Am 1. Februar trat er vor das Parlament in Delhi, um Indiens großen Aufbruch in die Zukunft zu verkünden. Die Regierung werde unter dem Stichwort "Digital India" 30,73 Milliarden Rupien (umgerechnet rund 380 Millionen Euro) in die Entwicklung von künstlicher Intelligenz investieren, erklärte er. Die landesweiten Ausgaben für KI-Programme wurden damit auf einen Schlag verdoppelt.

Doch Rajeswari Rajagopalan kann trotzdem nur den Kopf schütteln. "Sehr spät, sehr wenig", urteilt die Expertin für indische Cyber- und Weltraumpolitik am renommierten Forschungsinstitut Observer Research Foundation (ORF) in Delhi. Sehr spät – damit meint Rajagopalan den großen Vorsprung, den die USA, aber vor allem auch Indiens Nachbar China bereits haben. Auf dem letztjährigen Treffen der Association for the Advancement of Artificial Intelligence (AAAI), der weltweit wichtigsten KI-Konferenz, wurden 34 Prozent der wissenschaftlichen Beiträge von Amerikanern eingereicht, 23 Prozent von Chinesen.

Lediglich zwei Prozent kamen aus Indien. Und schaut man sich Jaitleys 380 Millionen Euro im internationalen Vergleich an, versteht man, was Rajagopalan mit "sehr wenig" meint: Die US-Regierung gab 2016 insgesamt eine Milliarde Euro für "nicht geheime" KI-Programme aus. Für China gibt es zwar keine genauen Zahlen, allerdings wurde vor Kurzem der Bau eines 1,8 Milliarden Euro teuren KI-Technologieparks im Westen Pekings beschlossen.

Doch nicht nur beim Geld hinkt Indien hinterher. Während sich in China knapp 4000 Personen mit dem Thema künstliche Intelligenz beschäftigen, seien es in Indien gerade mal 400 bis 500. Daran werde sich leider auch so schnell nichts ändern, prophezeit Rajagopalan. "Wir haben schlicht nicht die notwendigen Professoren, die unsere Jugend im KI-Bereich ausbilden könnten", klagt sie.

Dabei sind in diesem Wettkampf nicht nur Geld und Forschung entscheidend. Die Wissenschaftlerin macht noch einen weiteren wichtigen Vorteil Chinas aus. In der Volksrepublik ziehen alle an einem Strang. Die Regierung verkünde das große Ziel, bis 2030 zur KI-Weltmacht aufsteigen zu wollen. "Das ist kein Wunsch oder Ziel, sondern eine Anordnung an alle. Regierung, Industrie und Forschungsinstitutionen wie Universitäten machen mit." Vor allem im Bereich KI ist das von großer Bedeutung, denn hier geht es um Daten. Sie füttern die Algorithmen fortlaufend mit immer neuen Informationen und forcieren damit das Deep Learning der Maschinen. Ohne Zweifel haben US-Unternehmen wie Facebook oder Google exzellente KI-Experten und kluge Algorithmen.

Aber erst die große Menge an Daten macht aus ihren Ideen mächtige Werkzeuge. Es geht um alles: von persönlichen Angaben, Vorlieben und Hobbys über Kauf- und Essgewohnheiten bis hin zu Informationen über Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen. Genau hier hat China selbst den Spitzenreiter USA überholt, weil seine Bevölkerung digitale Dienste massenweise nutzt. Nur eines von vielen Beispielen ist das Bezahlen: 2016 führten Chinesen mit ihren Smartphones Transaktionen im Wert von 5,5 Billionen Dollar durch – das ist ungefähr 50-mal so viel wie in den USA, schätzt iResearch, eine Consultingfirma aus Shanghai. Die Wahrung der Privatsphäre ist dabei kein Thema.

In Indien hingegen wird ebenso heftig über Für und Wider der Technologie debattiert wie in Europa oder den USA. Der Streit um die Aadhaar-Karte ist dafür ein gutes Beispiel. Dieser Universalausweis sollte unzählige persönliche Daten speichern – von Biometrie bis Bankverbindung und Sozialversicherung. Doch viele Inder sehen ihre Privatsphäre verletzt und klagen vor dem indischen Verfassungsgericht. Rajagopalan fordert deshalb einen umfassenden Plan für Indiens KI-Aufholjagd. Mit Jaitleys Rede im Parlament und den angekündigten Investitionen sei es nicht getan. "Die Regierung muss unsere Universitäten und die Unternehmen mit ins Boot holen." Sonst wird aus Rajagopalans Urteil "spät" schon bald ein "zu spät".

Dann wird es in naher Zukunft noch viel mehr Menschen ergehen wie Sunil Kumar. Der ehemalige Angestellte von Tech Mahindra ist noch immer arbeitslos. Im Juni klagte er wegen unrechtmäßiger Kündigung beim Arbeitsrat, einer staatlichen Institution, die Industrie-Auseinandersetzungen lösen und Arbeitsrechte durchsetzen soll. Auf Nachfrage sagte man ihm, sein Fall werde sich wohl lange hinziehen. Kumar fürchtet, am Ende ohne etwas dazustehen. "Ich verliere meine Zuversicht", sagt er. Die Wirtschaftsseiten seiner Zeitung liest er schon lange nicht mehr, sie seien zu frustrierend.

"Es gibt viele Unternehmen, die Dinge sagen wie: Wir stellen so viele Leute ein, es gibt hier sehr viele Möglichkeiten. Ich habe aufgehört, solche Dinge zu lesen", erzählt Kumar. Er weiß, dass er anfangen sollte, sich einen neuen Job zu suchen, aber noch ist er nicht so weit. Es scheint, als hätte die Kündigung sein Leben ruiniert. "Ich kann mich seither auf nichts mehr konzentrieren", sagt er. "Es ist derzeit sehr schwierig."

(bsc)