Die IT frisst ihre Kinder

Das IT-Zeitalter hat Indien groß gemacht. 30 Jahre lang war Outsourcing ein verlässlicher Wachstumsmotor. Warum zieht nun China vorbei?

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Die IT frisst ihre Kinder

(Bild: Dadu Shin)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Samanth Subramanian
  • Michael Radunski
Inhaltsverzeichnis

Zwei Tage nach seiner Beförderung rief die Personalabteilung bei K.S. Sunil Kumar an – und forderte ihn auf zu kündigen. Es war April, Kumar ging gerade in sein neuntes Berufsjahr bei Tech Mahindra, einem der größten IT-Service-Anbieter Indiens. Er arbeitete in der Entwicklungsabteilung, wo er Komponenten für Luft- und Raumfahrtunternehmen aus Nordamerika und Europa entwarf. Sie schickten ihm spezifische Anforderungen – Materialwünsche für ein Scharnier, den Belastungsgrad, den es aushalten soll, oder etwa Kostenvorgaben – und er führte sämtliche Anforderungen mithilfe einer Software zusammen. Manchmal verließ Kumar seinen Stützpunkt in Bangalore, um vor Ort bei den Kunden Aufgaben zu erledigen: in Montreal, Belfast oder Stockholm.

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Kurz: Kumar war eine Art Fußsoldat in der großen Armee indischer Ingenieure, die über Jahre hinweg Arbeiten aus dem Westen für einen Bruchteil der Kosten übernahm. Sein lockiges Haar ist am Scheitel ausgedünnt und an den Schläfen grau meliert. Bei unserem Treffen trägt er ein verblasstes Shirt von Tommy Hilfiger, einen Rucksack und den Ausdruck dezenter Beklommenheit im Gesicht. Aufgewachsen ist er einige Hundert Kilometer entfernt von Bangalore in einem kleinen Dorf, in dem sein Vater einst an einem Handwebstuhl seidene Saris webte. 1995 zog Kumar im Alter von 15 Jahren nach Bangalore, um sich zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen. Später folgte der Universitätsabschluss dank eines Fernstudiums.

Bevor er im Sommer 2008 zu Tech Mahindra wechselte, hatte Kumar als Zeichner in einem Luft- und Raumfahrtunternehmen gearbeitet. Sein neuer Job eröffnete ihm ein völlig neues Leben, so wie es die IT-Industrie schon zuvor für viele andere Inder getan hatte, und bot ihm die Chance, seine Arbeitervergangenheit gegen eine Angestelltenzukunft einzutauschen. Kumar heiratete, das Paar bekam einen Sohn. Er nahm einen Kredit in Höhe von 47.000 Dollar auf, um ein Haus zu kaufen, sodass seine Eltern und seine beiden Brüder, die ihm nach Bangalore gefolgt waren, bei ihm bleiben konnten. "Ich lebe ein Mittelklasseleben", sagt Kumar.

Zum Zeitpunkt seiner Entlassung verdiente er knapp 17.000 Dollar pro Jahr – für indische Verhältnisse ein solides Salär. Ungefähr zur selben Zeit verkündete Tech Mahindra einen Vorjahresgewinn von 419 Millionen Dollar bei einem Umsatz von 4,35 Milliarden Dollar. Mit IT-Arbeiten und den damit verbundenen Serviceleistungen erzielen indische Unternehmen jedes Jahr Rekordeinnahmen von bis zu 154 Milliarden Dollar, knapp vier Millionen Menschen sind in diesem Geschäftsbereich angestellt.

Doch die guten Zeiten könnten vorbei sein. Eine wahre Entlassungswelle rauscht über die indische IT-Branche hinweg. Bots, lernende Maschinen und Algorithmen machen einstige Fachkompetenzen überflüssig. Im Anschluss an seine Generalversammlung in diesem Sommer hat das an der Börse mit rund 33 Milliarden Euro bewertete Unternehmen Infosys angekündigt, dass 11.000 seiner 200.000 Angestellten dank der Automatisierung von repetitiven Arbeiten "befreit" werden und sie in Zukunft anderswo im Unternehmen eingesetzt würden. Doch längst nicht alle können auf neue Tätigkeiten hoffen: Einer Untersuchung des Wirtschaftsmagazins "Mint" zufolge werden Indiens sieben führende IT-Unternehmen dieses Jahr mindestens 56.000 Angestellte entlassen. Die Wirtschaftsanalysten von HfS Research kamen bereits im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass die Automatisierung allein in Indien bis 2021 zu einem Nettoverlust von 480.000 Jobs führen werde.

Dass künstliche Intelligenz Arbeitsplätze vernichtet, ist keine indische Eigenheit. Allerdings droht die Automatisierung dieses Land besonders hart zu treffen. Ein Großteil seiner Hochtechnologie besteht aus Routinearbeiten, die prädestiniert dafür sind, zukünftig von Computern übernommen zu werden. In einigen Fällen werden indische IT-Anbieter ihre Dienstleistungen automatisieren. In anderen Fällen werden westliche Unternehmen dies selbst übernehmen und zukünftig solche Arbeiten nicht mehr nach Indien auslagern.

Chetan Dube hat diese Entwicklung kommen sehen – denn er hat sie selbst befeuert. 2005 warnte der Gründer und Chef des Software-Unternehmens IPsoft seine Kollegen auf einem IT-Forum in Mumbai: "Wenn Indiens Industrie sich nicht der bevorstehenden Automatisierungswelle bewusst wird, werden wir eine existenzielle Krise erleben." 2014 brachte sein Unternehmen dann sein aktuelles Vorzeigeprodukt auf den Markt: Amelia. Der sprechende Serviceagent ersetzt jene Menschen, die sich bislang in Callcentern und Hinterstübchen um Kundenanfragen kümmerten. Amelia löst Lieferprobleme großer Öl- und Gasfirmen, bietet den Live-Chat der schwedischen Bank SEB an und arbeitet bei anderen Banken mit deren Hypothekenmaklern zusammen. Bislang dauerte es im Schnitt 55 Sekunden, bis ein Kunde einen herkömmlichen Agenten im Ausland erreichte, erzählt Dube. Mit Amelia sei das nun in zwei Sekunden oder weniger möglich. Um eine Anfrage erfolgreich zu erledigen, waren bislang im Durchschnitt 18,2 Minuten nötig. Amelia gelinge dies in viereinhalb Minuten.

Spracherkennung mag bei Weitem noch nicht ausgereift sein, und selbst die hoch entwickelten Chatbots werden in naher Zukunft nicht in der Lage sein, weitschweifige Kunden, komplizierte Problemfälle oder ungewöhnlich starke Dialekte zu verstehen. Der Großteil der kommunikativen Arbeit in Callcentern ist jedoch simpel und immer wiederkehrend. Die Beschäftigten antworten in den ersten Stufen des Kundenservices anhand eines vorgegebenen Manuskripts. Ihre Aufgaben sind demzufolge am einfachsten in einen maschinellen Code umzuwandeln und zu ersetzen. Oder weiter nach Manila auszulagern, wo die Arbeitskosten noch niedriger sind – wie es Infosys oder Tata Consultancy Services bereits getan haben. Eine der düstersten Visionen stammt von Pankaj Bansal, dem Geschäftsführer von PeopleStrong, einem Personaldienstleister, der regelmäßig IT-Unternehmen mit Ingenieuren versorgt.

Für IT-Firmen, wie sie Indien bislang kennt, "wird es eine grausame Verstümmelung". In der Vergangenheit wurde Bansal immer wieder der Panikmache beschuldigt, doch er selbst hält an seiner Einschätzung fest. In den vergangenen zwei Jahren seien vier von zehn Stellen im unteren IT-Bereich durch die Automatisierung "zerquetscht" worden. Noch sei dies nicht an den Entlassungen abzulesen, wohl aber an der Zahl der Neueinstellungen. Sie sind ihm zufolge dramatisch zurückgegangen. Bis vor Kurzem seien Firmen noch durch die Ingenieurs-Colleges gestürmt auf der Jagd nach frischen Absolventen. Nun sei es still geworden. Bansal rechnet vor, dass die IT-Branche bis vor zwei, drei Jahren jährlich knapp 400.000 neue Arbeiter eingestellt hätte. Diese Zahl sei nun auf 140.000 bis 160.000 gefallen. In naher Zukunft werde "die Netto-Einstellungsbilanz nur noch knapp über null liegen".